Welt aus den Fugen: Die Zahl der Kriege ist auf einem Höchststand

Neuer Bericht von BKHS und Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt: Es wird immer schwieriger, Frieden zu schaffen

Vor einem zerbombten Mehrfamilienhaus steht eine rote Schaukel, die intakt scheint. Dem Haus im Hintergrund fehlt ein großes Stück aus der Mitte. Trümmer liegen zwischen der Schaukel und dem Gebäude.

Liebe Leser*innen,

drängt sich Ihnen angesichts der erschütternden Nachrichten aus der Ukraine oder aus dem Gaza-Streifen auch der Eindruck auf, dass die Welt aus den Fugen geraten ist? Leider trügt der Schein nicht. Die Zahl der Menschen, die in Kriegen sterben, ist so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Und das Dilemma ist: Es wird immer schwieriger, Kriege zu beenden und Frieden zu schaffen. Woran das liegt und wie Friedensförderung in Zukunft gelingen kann, das haben wir gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in einem umfassenden Bericht zusammengefasst, der diese Woche in Hamburg vorgestellt wurde. Die Studie fußt auf unserer Global Expert Group on Conflict Resolution and Peacebuilding, die wir als Netzwerk aus 13 Expert*innen aus zehn konfliktbetroffenen Ländern gebildet haben.

Zentrale Ergebnisse dieser Arbeit fasst unsere Kollegin Dr. Julia Strasheim, eine der Autorinnen des Berichts, in unserem Schmidtletter zusammen. 

Wir wünschen Ihnen eine erkenntisreiche Lektüre!
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



Russlands breitflächiger Angriff auf die Ukraine jährt sich heute zum zweiten Mal. Der Angriff hat unfassbares Leid über die ukrainische Bevölkerung gebracht. Die Vereinten Nationen (UN) zählten jüngst fast sechs Millionen Geflüchtete in Europa, vier Millionen Binnenvertriebene und 15 Millionen Ukrainer*innen, die auf humanitäre Unterstützung angewiesen sind. Die UN haben auch zahlreiche Kriegsverbrechen durch Russlands Truppen dokumentiert, darunter Folter, sexualisierte Gewalt und die Zwangsentführung von Kindern. Auch wenn die Zahl der Kriegstoten nie leicht zu ermitteln ist, gehen alle international renommierten Konfliktdatenbanken davon aus, dass der Ukrainekrieg zur Zeit einer der weltweit tödlichsten Konflikte ist. 

Doch nicht nur der Krieg in der Ukraine, auch der Terroranschlag der Hamas auf Israel und der Krieg im Gaza-Streifen, sowie die eskalierende Gewalt in Ländern wie Sudan, Jemen oder Myanmar bedeuten: Die Zahl der Kriege ist weltweit auf einem Höchststand – und die Zahl der Menschen, die in diesen Kriegen sterben, so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Derzeit lebt einer Schätzung zufolge jeder sechste Mensch der Welt in einem aktiven Kriegsgebiet.

Warum es gerade so schwierig ist, Kriege zu beenden

Werden Kriege also immer häufiger, wird es gleichzeitig zunehmend schwieriger, sie zu beenden. Die letzte große UN-Friedensmission wurde 2014 eingesetzt. Viele international vermittelte Friedensprozesse, wie in Syrien, sind im letzten Jahrzehnt zusammengebrochen. 

Diese Entwicklung hat viele Gründe. Das Großmachtstreben Russlands und Chinas und wachsende geopolitische Konflikte, die multilaterale Kompromisse erschweren, zählen dazu. Überdies sind Staaten wie Deutschland – die sich bislang besonders in der Friedensförderung engagiert haben – immer mehr mit Krisen im Inneren konfrontiert. Dazu zählt der erstarkende Rechtsextremismus. In Europa haben sich spätestens seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 auch die Sicherheitsinteressen vieler Staaten gewandelt, die zuletzt Grenzschutz, Migrationskontrolle und Terrorismusbekämpfung gegenüber Friedensförderung in Ländern mit geringer strategischer Bedeutung priorisierten. Und schließlich war auch die Rückkehr der Taliban an die Macht in Afghanistan das eindeutige Zeichen, dass die Zeit, in der man dachte, Frieden nach westlichem Vorbild fördern zu können, vorbei ist. 

Hinzu kommt: Kriege verändern sich. Sie werden komplexer. In immer mehr Ländern kämpfen Kriegsparteien in verschiedenen, teils überlappenden Konflikten mit lokalen und nationalen Interessen. Oder sie erhalten Unterstützung von außen, etwa durch Mächte wie Iran oder Saudi-Arabien. Kriege werden auch häufiger mit hybriden Mitteln wie Desinformationskampagnen geführt. Das ist an sich nicht neu – neu sind aber Tempo und Ausmaß der Verbreitung, die durch den Einsatz sozialer Medien und künstliche Intelligenz begünstigt werden. 

Kleinere Ziele für den Moment

Müssen internationale Akteure sich die eskalierende Kriegsgewalt angesichts dieser massiven Herausforderungen einfach von der Seitenlinie anschauen? Nein, auch wenn Fachleute sagen, dass sie aktuell kleinere Ziele verfolgen müssen. Dazu gehören der Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung, die Dokumentation von Kriegsverbrechen oder langfristige Planungen für den Wiederaufbau von Nachkriegsgesellschaften – wie die Ukraine Recovery Conference, die im Juni 2024 in Berlin stattfinden wird. 

Das ist alles wichtig, aber nicht gleichzusetzen mit wirklich nachhaltiger Konfliktbewältigung. Was es dafür künftig braucht, skizziert ein neuer Bericht, den wir diese Woche gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung publiziert haben. Der Bericht basiert auf Beiträgen der Global Expert Group on Conflict Resolution and Peacebuilding – einem Netzwerk führender Vertreter*innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik, die selbst aus Konfliktländern kommen – sowie zahlreichen Interviews und einer Auswertung des Forschungsstands. 

Ein grundsätzliches Umdenken ist notwendig 

Im Bericht zeigen wir: Die Krise der Friedensförderung liegt nicht nur an aktuellen Herausforderungen, sondern auch an Fehlern der Vergangenheit. Nicht erst Afghanistan hat gezeigt, dass die internationalen Interventionen der letzten 30 Jahre nur wenige uneingeschränkte Erfolge vorzuweisen haben. Ein Grund ist, dass Frieden zu oft „von oben“ und „von außen“ kam. Friedensverträge wurden verhandelt von Regierungschefs und Rebellenführen, aber zivilgesellschaftliche Organisationen, Oppositionsparteien oder Opfervertretungen blieben meist außen vor. Nach der Unterzeichnung der Verträge wurden Friedensprozesse oft von internationalen Organisationen umgesetzt, deren Beschäftigten es an Kenntnissen über Geschichte und Sprachen eines Landes mangelte. Als Folge war Frieden oft nur wenig auf die Bedürfnisse der Menschen vor Ort abgestimmt – und internationale Akteure haben mit schwindender Legitimität zu kämpfen. 

Ein Beispiel: Es gibt eine Anekdote über die US-Regierung von George W. Bush, die nach dem Sturz von Saddam Hussein im Irak im Jahr 2003 eine Strategie zur „Entbaathifizierung“ entwickelte – also zur Entfernung hochrangiger Vertreter der Baath-Partei aus ihren Ämtern. Dabei soll sich die USA sich so eng an der Entnazifizierung in Deutschland nach 1945 orientiert haben, dass im Referentenentwurf der US-Strategie fälschlicherweise das Wort „Deutschland“ auftauchte. Das ist eines der greifbarsten Beispiele, wie in den vergangenen drei Jahrzehnten Frieden auf der Welt „von außen“ und nach westlichen Schablonen gefördert werden sollte.

Das Phänomen ist also nicht neu. Doch die globale Frustration über die wahrgenommene Doppelmoral westlicher Länder im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine im Vergleich zu ihrem Umgang mit anderen Kriegen wird ein neuer Referenzpunkt für alte Zweifel an der Legitimität internationaler Einsätze sein. Um die Fehler der Vergangenheit anzugehen, muss zunächst ein grundsätzliches Umdenken in europäischen Hauptstädten erfolgen, bevor Strategien, Leitlinien oder Projektziele überarbeitet werden. Die Kernfragen der nächsten Zeit müssen sein: Was kann realistisch von wem, wann und wo erreicht werden? Wie kann eine Wende zu einer pragmatischeren Friedensförderung aussehen, die nicht in einem vollständigen Rückzug endet? Und wie kann das dringend notwendige Kontextwissen zu Konfliktländern und die Analyse von subnationalen Konflikttreibern in diesen Ländern in der Regierungsarbeit gestärkt werden, um bessere und vor allem länderspezifische Strategien zu entwickeln? 

Keine Blaupausen, sondern verlässliche Finanzierung

Es gibt also keine Blaupausen, wie man Kriege beendet und die immer überall funktionieren. Das ist eine Lehre aus der Vergangenheit. Eine andere ist: Frieden ist kein Projekt für ein paar Jahre, sondern eines für Generationen – und erfordert eine verlässliche Finanzierung. 

Die hohe Aufmerksamkeit in Europa auf die Ukraine hat jedoch bestehende Finanzierungslücken in Ländern wie Afghanistan oder Syrien weiter verschärft. Das hat Konsequenzen für die Menschen vor Ort – aber auch für die Politik, denn es ist ein Brandbeschleuniger für Debatten über die mangelnde Verlässlichkeit Europas. Weil Kriege auch immer mehr in Ländern stattfinden, die von weiteren Krisen betroffen sind (wie dem Klimawandel), müssen Politiker*innen für dauerhafte Lösungen das Silodenken in einzelnen Politikfeldern weiter aufbrechen und Ressourcen über Ressortlogiken hinweg mobilisieren. Das ist auch eine Forderung im Zwischenbericht der Enquete-Kommission zu Afghanistan, die von „Ressortegoismen“ spricht.

Neben dem punktuellen Angehen von akuten Konflikttreibern müssen dafür auch strukturelle Konfliktursachen umfassender ins Visier genommen, etwa indem Ausgaben mehr als bislang nicht nur an kurz-, sondern auch an langfristigen Zielen ausgerichtet werden. Grundsätzlich ist aus dieser Sicht die Kürzung der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe im Bundeshaushalt 2024 keine gute Idee, da sie dem weltweit steigenden Bedarf zuwiderläuft.



Den Report „Neue Perspektiven: Friedensförderung und Konfliktbearbeitung in einer sich wandelnden Weltordnung“ in englischer Sprache und eine deutsche Zusammenfassung finden Sie hier

Vor einem zerbombten Mehrfamilienhaus steht eine rote Schaukel, die intakt scheint. Dem Haus im Hintergrund fehlt ein großes Stück aus der Mitte. Trümmer liegen zwischen der Schaukel und dem Gebäude.

Momentaufnahme vom 25. Dezember 2022 in der Region Charkiw, Ukraine: Durch russischen Beschuss wurde dieses Mehrfamilienhaus in Isjum zerstört. © picture alliance / abaca / Ruslan Kaniuka / Ukrinform

Gruppenfoto der Global Expert Group. Es stehen 12 Personen in zwei Reihen hintereinander.

Die Global Expert Group on Conflict Resolution and Peacebuilding bei dem Kick-Off-Workshop in den Hamburger Ausstellungsräumen der BKHS. © BKHS / Michael Zapf

Teile diesen Beitrag: