Wirtschaftliche Abhängigkeit als politische Waffe

Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße wird zehn Jahre alt während die G7 um „ökonomische Sicherheit“ ringt

Peng Liyuan, Ehefrau von Chinas Präsident Xi Jinping, Chinas Präsident Xi Jinping, Panamas Präsident Juan Carlos Varela und die First Lady Panamas Lorena Castillo besuchen die Cocoli-Schleusen während eines Staatsbesuchs 2018 zur Erweiterung des Panama-Kanals als Teil der BRI. Foto: Carlos Jasso/REUTERS

Liebe Leser*innen,

für die deutsche Bundesregierung gilt China gleichzeitig als Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. So lautet es in der China-Strategie, die dieses Jahr veröffentlicht wurde – zehn Jahre nachdem Xi Jinping sein Projekt der Neuen Seidenstraße ins Leben gerufen hat. Sie ist also Ausdruck davon, dass sich nicht nur China in diesem Zeitraum neu ausgerichtet und Abhängigkeiten geschaffen hat, sondern auch davon, wie Deutschland im Zuge dessen seine Strategie und Herangehensweise in wirtschaftspolitischen Fragen neugestalten musste.

Unsere Leiterin für die Programmlinie „Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit“ Elisabeth Winter blickt in diesem Schmidtletter auf die Entwicklung des chinesischen Jahrhundertprojekts und deren Auswirkungen auf die internationale Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund der Globalisierung.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

In rasender Geschwindigkeit folgt derzeit eine globale Krise auf die nächste. Ein weiteres Mal wird die internationale Zusammenarbeit auf die Probe gestellt, was insbesondere die Globalisierung und den internationalen Handel herausfordert: Erst war es Trumps Handelskrieg, der die globalen Lieferketten unterbrach, dann war es die Corona-Pandemie, nun sind es ausgetrocknete Flüsse und Panzer.

Dementsprechend erfährt die Weltwirtschaftsordnung gerade eine grundlegende Veränderung. Internationaler Handel wird neu organisiert, und nicht selten ist sogar die Rede vom Ende der Globalisierung wie wir sie seit den 1990er-Jahren kennen. Im Zentrum dieser Entwicklungen steht ein global ambitioniertes China – und der zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China entbrannte Systemwettbewerb.

Das Jahrhundertprojekt

Vor zehn Jahren, im September 2013, verkündete der chinesische Staatspräsident Xi Jinping mit seinem „Jahrhundertprojekt“ einen folgenreichen Plan: das Projekt der Neuen Seidenstraße (aus dem Chinesischen übersetzt „Ein Gürtel, eine Straße“ oder in der oft genutzten englischen Bezeichnung „Belt and Road Initiative“, kurz BRI).

Mit dem gigantischen Projekt plante der damals noch frisch gebackene Staatschef die Intensivierung von regionalen als auch globalen Handelsnetzen, insbesondere durch zahlreiche Infrastrukturinitiativen. Bis 2021 wurden im Zusammenhang mit der Neuen Seidenstraße Abkommen mit 140 Ländern und 32 internationalen Organisationen in Afrika, Asien, Europa, Nordamerika, im Pazifik und Lateinamerika unterzeichnet. Allein im Jahr 2020 investierte China rund 22,5 Milliarden US-Dollar in Länder entlang der Neuen Seidenstraße.

Wenngleich die Neue Seidenstraße inzwischen in anderen Strategien aufzugehen scheint und ihre Konturen somit verschwimmen, spiegelt sie dennoch eindeutig Chinas Ambitionen wider. Nach Schätzungen umfasst das gesamte Projekt heute fast zwei Drittel der Weltbevölkerung und mehr als die Hälfte der Weltwirtschaft.

Gleichzeitig ist der anfängliche Enthusiasmus vieler Kooperationsländer inzwischen verflogen, denn oft profitiert vor allem China von den einzelnen Projekten. So wird die große Mehrheit der Logistikaufträge an chinesische Unternehmen vergeben, viele Länder haben sich massiv bei China verschuldet, und Berichte über Umweltverschmutzung sowie Menschenrechtsverletzungen werden immer häufiger.

In der Europäischen Union war nur Italien Partner der Neuen Seidenstraße geworden – hat aber vor wenigen Wochen seinen Rückzug aus dem Projekt verkündet. Unterhalb der nationalen Ebene gibt es aber sehr wohl Initiativen. Seit 2016 ist die chinesische Reederei Cosco Mehrheitseignerin des griechischen Mittelmeerhafen in Piräus und baute diesen in den Folgejahren als zentralen Knotenpunkt für den maritimen Handel aus. Mit der Beteiligung am Containerterminal Tollerort könnte Hamburg nun ein weiterer wichtiger Hafen des maritimen Arms des chinesischen Infrastrukturprojekts werden. Duisburg als größter europäischer Binnenhafen ist das Ende der Eisernen Seidenstraße, einer Bahntrasse die China mit Europa verbindet.

Wirtschaftliche Verflechtung

China hat seinen eigenen Aufstieg dem bestehenden System internationalen Handels zu verdanken. Der Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 erlaubte dem Land die Integration in den globalen Handel der heute 164 Mitglieder zählenden multilateralen Organisation.

Wirtschaftliche Abhängigkeiten galten damals noch als fortschrittliche ökonomische Integration. Vor der Finanzkrise 2007/2008 hatten die USA weder mit China noch mit Russland einen Systemwettbewerb ausgerufen. Keines der beiden Länder wurde als ernsthafter Rivale wahrgenommen. Vielmehr beteiligten sich alle drei Großmächte – mal mehr, mal weniger – an der multilateralen Handelspolitik der WTO und dem von ihr organisierten globalen Handel.

Dennoch stand die in den 1990er-Jahren weltweit durchgesetzte liberale Handelspolitik von Anfang an unter schwierigen Vorzeichen. Denn entgegen der damals weit verbreiteten liberalen Vorstellung einer hierarchiefreien, ökonomisch vernetzten Welt (Stichwort „end of history“, Francis Fukuyama) verfestigten und verstärkten sich ungleich verteilte ökonomische Abhängigkeiten. Und diese asymmetrischen Abhängigkeiten funktionierten nur so lange wie internationale Arbeitsteilung und internationale Kooperation leitende Prämissen der Außenpolitik waren.

Die politische Instrumentalisierung ökonomischer Abhängigkeiten

Heute befinden wir uns aber in einer neuen Situation, die einzigartig ist: Wie im Kalten Krieg werden die internationalen Beziehungen von einem Systemkonflikt dominiert, jedoch anders als damals sind die Wettbewerber*innen sowohl untereinander als auch mit dem Rest der Welt stark ökonomisch verflochten und wirtschaftlich voneinander abhängig.

Genau diese wirtschaftliche Abhängigkeit wird nun als politische Waffe eingesetzt. Die Politikwissenschaftler Abraham Newman und Henry Farrell nennen diese neue Strategie „weaponized economic interdependence“ – die Instrumentalisierung wirtschaftlicher Abhängigkeiten als Waffe. Um politische Ziele zu erreichen, nutzen Regierungen die durch internationalen Handel entstandenen ökonomischen Abhängigkeiten, um sich strategische Vorteile gegenüber ihren Rivalen zu verschaffen. So ist keine Zusammenarbeit in der multilateralen Handelspolitik mehr möglich.

Xi Jinpings Neue Seidenstraße von 2013 ist ein Beispiel par excellence für eine derartige Instrumentalisierung ökonomischer Instrumente zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen. Die enormen chinesischen Investitionen in unzählige Infrastrukturprojekte entlang der Neuen Seidenstraße sollen einerseits dem internationalen Handel auch in Zeiten eines wachsenden Protektionismus dienen, andererseits aber auch Chinas Einfluss in den beteiligten Ländern sichern. Ähnliches gilt für den „Built Back Better World“-Plan der USA und die „Global Gateway“-Strategie der EU – beides Antworten auf die „Belt and Road Initiative“.

Chinas Neue Seidenstraße und ihre starke strategische, sicherheitspolitische Dimension haben maßgeblich zur Veränderung der Weltwirtschaftsordnung und der Beurteilung des internationalen Wirtschaftens beigetragen. Geoökonomische Strategien, die Wirtschaft mit Sicherheitspolitik zusammendenken, sind immer stärker verbreitet. Dies geschieht zwar noch ohne abschließende einheitliche Definition, aber die G7 und ihre Mitgliedsstaaten bewerten derzeit die internationale handelspolitische Zusammenarbeit unter dem Stichwort „ökonomische Sicherheit“ neu. Auch wenn weiterhin der Freihandel stark betont wird, engagieren sich Staaten zunehmend mit einer gestaltenden und eingreifenden Wirtschaftspolitik aus einer strategischen und sicherheitspolitischen Perspektive. Das ist sicherlich nicht das Ende der Globalisierung – aber eine Umgestaltung hat begonnen.
 

Peng Liyuan, Ehefrau von Chinas Präsident Xi Jinping, Chinas Präsident Xi Jinping, Panamas Präsident Juan Carlos Varela und die First Lady Panamas Lorena Castillo besuchen die Cocoli-Schleusen während eines Staatsbesuchs 2018 zur Erweiterung des Panama-Kanals als Teil der BRI. Foto: Carlos Jasso/REUTERS

Der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping und die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) sitzen 2014 auf einem Podium zur Neuen Seidenstraße in Duisburg. Foto: Federico Gambarini/dpa

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