Worlds Together, Worlds Apart?

Die Wechselwirkungen zwischen der europäischen Integration und der deutschen Wiedervereinigung

Zu den Themen:EuropaZeitgeschichte
Es folgt eine Bildergalerie mit Impressionen von der Veranstaltung. Das erste Bild zeigt einen Konferenzraum mit langen Tischen, an denen Personen sitzen.

Internationale Konferenz | Hamburg, 23. - 25. September 2021

Autorin: Julia Raba

Wie griffen der europäische Einigungsprozess und die deutsche Wiedervereinigung ineinander? Welche Rolle spielte insbesondere die währungspolitische Integration in diesem Prozess? Diesen und weiteren Fragen widmete sich die Konferenz „Worlds Together, Worlds Apart? Assessing the Interplay between European Integration and German Unification“, die von Kiran Klaus Patel, dem ersten Scholar-in-Residence der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung und des Europa-Kollegs Hamburg, konzipiert und mit Förderung der Stadt Hamburg umgesetzt wurde. Vom 23. bis 25. September diskutierten 21 internationale Expert*innen am Europa-Kolleg und digital zu diesen Fragen.

In seiner Begrüßung betonte Markus Kotzur, Präsident des Europa-Kollegs, dass ein europäisches Deutschland und ein europäisches Europa von großer Wichtigkeit wären. Nachdem er und Meik Woyke, Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, die Konferenz gemeinsam mit Kiran Patel eröffnet hatten, wurde das Verhältnis von europäischer Integration und deutscher Einheit in vier thematischen Panels diskutiert.

Im ersten Panel zur Perspektive Deutschlands als Teil des „Westens“ präsentierten vier Wissenschaftler*innen ihre Forschungsergebnisse zum deutschen Verhältnis zu Großbritannien, Frankreich, den Vereinigten Staaten von Amerika und Italien. Matthias Häußler (Universität Regensburg) argumentierte, dass die deutsche Wiedervereinigung eher als Katalysator denn als Auslöser für die isolierte Position Großbritanniens gegenüber den EU-Partnern wirkte. Eine neue Perspektive auf die Haltung Großbritanniens gegenüber Deutschland sei, dass diese sich nach dem Fall der Berliner Mauer änderte und zu einer neuen politischen Taktik führte. Die langfristige Dynamik zwischen den drei dominierenden Nationen in Westeuropa – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – sei dagegen konstant geblieben. Großbritannien sei nicht in der Lage gewesen, die deutsch-französischen Beziehungen zu durchdringen oder sich auf eine gleichberechtigte Ebene zu begeben. Dies sei bereits seit den sechziger Jahren und mit Blick auf die enge Allianz zwischen Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing in der darauffolgenden Dekade zu beobachten. Auch Hélène Miard-Delacroix (Universität Sorbonne) analysierte Kontinuitäten in den Beziehungen Frankreichs und Großbritanniens zu Deutschland und betonte die Bedeutung des Faktors Zeit. Die Wiederwahl des damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand im Jahr 1988 und die von ihm verfolgte aktive Politik gegenüber der europäischen Integration und der Währungsunion brachte eine neue Dynamik hervor. Miard-Delacroix legte außerdem einen besonderen Forschungsschwerpunkt auf die Befürchtungen Frankreichs bezüglich der politischen Veränderungen, welche die Deutsche Wiedervereinigung mit sich bringen würde.  Auch außereuropäische Perspektiven wurden im Panel beleuchtet: Welche Rolle spielten die Vereinigten Staaten in den Prozessen der europäischen Integration und der deutschen Wiedervereinigung? Philipp Gassert (Universität Mannheim) argumentierte, dass das Ende der Zweistaatlichkeit eine Gelegenheit war, die transatlantischen Beziehungen neu zu gestalten. Der „Elefant im Raum“ dieser Beziehungen sei die Zukunft der NATO gewesen, die für die US-Sicherheitspolitik von zentraler Bedeutung wäre. Für die USA musste der Prozess der deutschen Wiedervereinigung mit der weiteren Integration in die NATO und einer zunehmend integrierten europäischen Gemeinschaft einhergehen. Die USA und das Vereinigte Königreich teilten das Bestreben, das vereinte Deutschland als zentralen Teil der transatlantischen Partnerschaft zu erhalten. 

Im zweiten Panel befassten sich die Wissenschaftler*innen mit Deutschland als Teil Ostmitteleuropas. Philipp Ther (Universität Wien) argumentierte, dass die Geschichte der deutschen Einheit und der „Osterweiterung“ von westlichen Vorstellungen, Erwartungen und Normen geprägt war und ist. Er stellte fest, dass die Berliner Mauer von Menschen auf ihrer Ostseite niedergerissen wurde: Hatte der Westen also wirklich „gewonnen“? Ther vermutete, dass der Westen die Auswirkungen der Geschichte hinter dem „Eisernen Vorhang“ unterschätzt habe. Der Begriff „Osterweiterung“, der beispielsweise von der EU-Kommission und Westdeutschland für den Erweiterungsprozess mit Polen, Ungarn oder die Slowakei verwendet wird, sei nicht ganz richtig. Diese Länder seien Teil Mitteleuropas, und ihre Konzeption als Teil des „Ostens“ zeige die politische Wahrnehmung Westeuropas sowie falsche Vorstellungen über die Rolle der DDR im „Osten“. Zudem wurde argumentiert, dass die „östlichen“ Nationen nicht als passive Objekte der Geschichte wahrgenommen werden sollten. Ferenc Laczo (Universität Maastricht) untersuchte hierzu verschiedene Aspekte des Einflusses Ungarns auf den Deutschen Wiedervereinigungsprozess. Eine weitere Perspektive wurde von Elena Dragomir (Universität Valahia in Târgovişte) aufgezeigt. Der sogenannte „Ostblock“ sei weit weniger monolithisch als er aus westlicher Sicht wahrgenommen werde. Jede Nation verfolgte ihre eigenen Bedürfnisse und politischen Interessen, und insbesondere Rumänien hatte mehr Handlungsspielraum als der Westen zugestehen wollte. Rumäniens Haltung gegenüber der EWG war sehr entgegenkommend, was typisch für die assimilierenden Beziehungen zwischen wirtschaftlich aufstrebenden Ländern und größeren wirtschaftlichen Weltmächten war. Zur Frage des Verhältnisses zwischen Europa und nationaler Souveränität schloss Laczo, dass die europäische Integration ein Weg sei, um Handlungsspielraum zu gewinnen. Die ostmitteleuropäischen Länder seien wirtschaftlich stark transnational vernetzt, politisch und kulturell aber eher nach innen gewandt.

Im dritten Panel wurden die Europäische Gemeinschaft (EG) und die deutsche Wiedervereinigung im Hinblick auf die währungspolitische und wirtschaftliche Integration diskutiert. Victor Jaeschke (Universität Potsdam) merkte an, dass es besonders wichtig für die Europäische Kommission gewesen sei, dass die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) von einer umfassenden europäischen Sozialpolitik begleitet werde. 1990 habe man geglaubt, dass, wenn das marktwirtschaftliche Europa kurz vor der Vollendung stehe, beschleunigt durch die deutsche Wiedervereinigung, das soziale Europa schon irgendwie nachziehen werde, was freilich nie geschehen sei, erklärte Jaeschke. Die Diskussion in Deutschland über die Währungsunion drehte sich um die Frage: Ist die Währungsunion ein Verlust für Deutschland oder ein Vorteil? Der Straßburger Gipfel von 1990 sei eines der seltenen Beispiele, an dem man den persönlichen Einfluss eines politischen Akteurs auf eine Schlüsselentscheidung der internationalen Politik deutlich erkennen kann. Die deutsche Position und der Zeitplan für die WWU wurden von Helmut Kohl persönlich festgelegt, der im Oktober/November 1989 einem sehr starken Druck ausgesetzt war. Das Straßburger Gipfeltreffen sei für Deutschland und Europa von großer Bedeutung gewesen und es gebe unterschiedliche Berichte über die Atmosphäre auf dem Gipfel. Helmut Kohl proklamierte, einer nahezu tribunalartigen Stimmung ausgesetzt gewesen zu sein, während die Protokollant*innen des Gipfels ein ganz anderes Bild zeichneten. Generell sei er als Taktiker nicht zu unterschätzen, so Andreas Wirsching (Ludwig-Maximilians-Universität München). Kohl habe es geschafft, den von europäischer Seite auf die deutsche Regierung ausgeübten Druck nach dem Mauerfall auf die französische Regierung und Mitterrand zu übertragen, was in den französischen Archiven sehr gut sichtbar sei. Harold James (Princeton University) erklärte zum Übergang Deutschlands von der D-Mark zum Euro, dass dieser mit einem Kontrollverlusts Deutschlands einherging und Deutschland von den Entscheidungen des EZB-Rats abhängig machte. Ein weiterer Aspekt sei die kulturelle Bedeutung, die die D-Mark für deutsche Bürger*innen hatte: In gesellschaftlichen Narrativen stand die D-Mark für wirtschaftliche und finanzielle Stabilität – die Einführung des Euro bedeutete angeblich einen Verlust ebendieser. Sowohl die europäische als auch die deutsche Währungsunion seien politische und keine wirtschaftlichen oder finanziellen Entscheidungen gewesen, so Wirsching abschließend.

Das Thema des letzten Panels waren europäische Einigungsprozesse jenseits des Euro und ihre Überschneidung mit der deutschen Wiedervereinigung. Es war die deutsche Vereinigung, die zu Plänen für eine politische Union führte, zu der auch die Außen- und Sicherheitspolitik gehörte, sagte Gabriele Clemens (Universität Hamburg). Mitterrand und Kohl zielten auf eine Stärkung des Europäischen Parlaments und weitere institutionelle Reformen ab. Aber wer war Initiator der Idee einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der politischen Union? Laut Clemens gab es mehrere. Im Februar 1990 proklamierten Valéry Giscard d‘Estaing und Helmut Schmidt die Notwendigkeit eine föderale Union aufzubauen, von der die Außen- und Sicherheitspolitik ein Teil sein musste. Im März forderte das Europäische Parlament schließlich eine gemeinsame Außenpolitik, und auch Jacques Delors legte solche Pläne vor. Großbritannien war in diesem Zusammenhang gegen eine Einschränkung seiner Souveränität in der Außenpolitik, während die Niederlande und Belgien eine engere Zusammenarbeit vorschlugen. Deutschlands Taktik in dieser Angelegenheit war es, die Ängste der Nachbarstaaten zu beschwichtigen. Gleichzeitig sei es die größte Angst der Deutschen gewesen, in der Welt unbedeutend zu werden, was mit einer starken gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik beantwortet wurde, so Clemens. Die Diskussion auf dem Podium drehte sich in erster Linie um innerdeutsche Fragen, unter anderem um politische Herausforderungen in den Bundesländern und die Rolle der Polizei. Frank Bösch (Universität Potsdam) betonte, wie wichtig es sei, sich mit der Angst westlicher Nationen vor einer Verbreitung kommunistischer Ideologie durch die Wiedervereinigung der BRD mit der DDR auseinanderzusetzen. Auch die deutsche NS-Vergangenheit war Teil der Diskussion. Dominik Geppert (Universität Potsdam) argumentierte, dass diese Vergangenheit im westdeutschen Parlament in den Debatten um die deutsche Wiedervereinigung hauptsächlich von der Opposition zur Sprache gebracht wurde. Besonders die Grünen äußerten sich besorgt darüber, dass der deutsche Wiedervereinigungsprozess auch mit einer Wiederkehr der „schlechten Vergangenheit“ einhergehen könne. Es herrschte im Parlament jedoch ein allgemeiner Konsens darüber, dass Deutschland aus seiner Vergangenheit lernen müsse, um eine gute europäische Zukunft zu haben. Die Veränderungen zwischen 1985 und 1992 seien revolutionär und umwälzend gewesen. Es sei interessant, dass die deutschen Parlamentarier*innen in den Parlamentsdebatten die europäische Integration als Teil der Kontinuität und Stabilität wahrgenommen haben, obwohl sie als revolutionär angesehen werden kann, so Geppert.

Zum Abschluss der Konferenz fasste Kiran Patel die wichtigsten Erkenntnisse aus den Diskussionen der Panels zusammen und gab einen Ausblick auf die nächsten Schritte des Projekts. Die Ergebnisse der Konferenz sollen in einem Sammelband veröffentlicht werden. 

Blick in das Atrium, das als Konferenzraum dient.

© BKHS/Zapf

Meik Woyke hält eine Ansprache.

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Markus Kotzur hält eine Ansprache.

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Ein Mann in grauem Anzug am Rednerpult.

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Vier Menschen sitzen vor aufgestellten Bannern der Helmut-Schmidt-Stiftung und blicken Richtung Publikum.

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Eine Frau steht am Mikrophon, gestikuliert mit zwei Fingern und blickt in die Kamera.

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Ein Mann mit dunklen Haaren und Brille gestikuliert.

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Ein Mann mit gepunkteter Krawatte gestikuliert.

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Sieben Menschen sitzen an einem langen Tisch und blicken zum Podium, wo ein Mann in grauem Anzug spricht.

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Mann mit Glatze gestikuliert.

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Mann in schwarzem Sakko steht am Rednerpult und blickt in den Raum.

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Blick auf einen Bildschirm. Per Videoschalte ist ein Mann mit Kopfhörern zu erkennen.

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Mann mit Glatze sitzt neben einem Mann mit dunklen Haaren und Brille. Sie sprechen miteinander und bewegen ihre Hände.

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Ein Mann mit schwarzem Sakko am Rednerpult.

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Vor einem Banner des Europa-Kollegs sitz ein Mann mit Laptop.

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Eine Frau mit schwarzer Bluse gestikuliert am Mikrophon.

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Ein Mann macht ein Handzeichen mit dem Daumen. Er sitzt an einer Tischreihe vor Bannern der Stiftung und dem Europa-Kolleg.

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Eine Frau in roten Kleid steht am Rednerpult.

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Nahaufnahme eines Mannes, der spricht und ein Mikroport trägt.

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Foto eines Bildschirms auf dem ein Mann in Brille zu sehen ist.

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Junge Frau mit Ponny und Brille spricht in ein Mikrophon.

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Mann sitzt an einem langen Tisch und erhebt seinen Daumen zu einer Aufzählung.

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Zwei Männer lächeln in die Kamera. Sie halten Tassen in der Hand.

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