BKHS-Blickwinkel 02_2021

Bruce Stokes: Ansichten europäischer Politiker*innen der nächsten Generation zur transatlantischen Zusammenarbeit

Zentrale Erkenntnisse


#1: Die nächste Generation europäischer Politiker*innen glaubt, dass die Vereinigten Staaten und Europa bei der Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen zusammenarbeiten können, etwa in den Themenbereichen China, Technologie, Klimawandel, Wirtschaft und Sicherheit.

#2: Während junge europäische Abgeordnete im Allgemeinen eine größere europäische Eigenständigkeit befürworten, sehen sie auch Grenzen für die Autonomie der Europäischen Union.

#3: Die transatlantische Zusammenarbeit im Umgang mit China findet allgemeine Unterstützung, während die künftige Kooperation mit den Vereinigten Staaten auf den Gebieten Technologie und Klimawandel mit einiger Skepsis betrachtet wird.

#4: Während das Vertrauen in die Vereinigten Staaten in der Ära Trump einen schweren Schlag erlitten hat, sind die führenden europäischen Politiker*innen der nächsten Generation vorsichtig hoffnungsvoll, was die Zuverlässigkeit der USA in der Zukunft angeht. Vieles hängt jedoch davon ab, ob Washington in der Lage ist, Maßnahmen zum
Klimawandel zu ergreifen. 

#02_2021 – 21. September 2021

Ansichten europäischer Politiker*innen der nächsten Generation zur transatlantischen Zusammenarbeit 

Bruce Stokes

Deutschland geht am 26. September zu historischen Wahlen an die Urnen. Nach 16 Jahren an der Macht tritt Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine starke Befürworterin enger amerikanischeuropäischer Beziehungen, von ihrem Amt zurück. Die drei Kanzlerkandidat*innen sind allesamt überzeugte Transatlantiker*innen. Doch wer auch immer sich durchsetzen wird, es wird eine neue Ära in der deutschen und europäischen Politik und in den Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten beginnen.

Die nächste Generation führender Politiker*innen, die bald die Regierungsbühne betreten wird, steht in ganz Europa in den Startlöchern, in den nationalen Parlamenten als auch im Europäischen Parlament. In den kommenden Jahren werden sie zur Gestaltung Europas und seiner Beziehungen zu den Vereinigten Staaten beitragen. Ihre Prioritäten und ihre Auffassungen im Hinblick auf die Zukunft der transatlantischen Beziehungen werden darüber entscheiden, ob beide Seiten bei der Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen zusammenarbeiten können: China, Klimawandel, Technologie, Wirtschaft und Sicherheit.

Napoleon Bonaparte bemerkte einmal: „Um einen Mann zu verstehen, muss man wissen, was in der Welt geschah, als er zwanzig war.“ Die jungen Abgeordneten haben die Vereinigten Staaten anders erlebt als ihre älteren Kolleg*innen. Ihr Weltbild wurde nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Aufstieg Chinas zu einer Weltmacht geprägt. Zudem werden die Umstände, die die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen für ihre älteren Kolleg*innen prägten, zunehmend durch eine Reihe neuer, vielschichtiger globaler Herausforderungen, wie den Klimawandel, abgelöst.

Die Weltanschauung der nächsten Generation

„Die Menschen in den 50er- und 60er-Jahren lebten im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten in einem anderen Umfeld“, meinte ein Mitglied der Freien Demokratischen Partei (FDP) im Deutschen Bundestag, „sie waren von der amerikanischen Kultur umgeben.“ Und doch plädieren heute selbst viele ältere führende Politiker*innen in Europa für eine größere strategische Autonomie oder technologische Souveränität Europas (und damit für eine gewisse Abkopplung von den Vereinigten Staaten). Expert*innen warnen, dass Washington im Zuge des Afghanistan-Abzugs unzuverlässig geworden ist.

Die jüngeren Europäer*innen haben die Vereinigten Staaten anders erlebt. „Was denken die sich dabei?“, fragte ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SDP) in Berlin rhetorisch. „Es ging los mit dem 11. September und dann Irak, George W. Bush, Afghanistan, Abu Ghraib, Trump, Klima und China.“ Aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen haben sie eine positive, aber differenzierte Sicht auf die künftigen transatlantischen Beziehungen. Sie befürworten die weitere Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, äußern jedoch unterschiedliche Auffassungen darüber, wie mit China oder Fragen der Technologie umzugehen ist, und sie teilen den allgemeinen Wunsch, dass Europa seine Fähigkeiten ausbaut. Gleichzeitig erkennen sie allgemein an, dass Europa keinen Alleingang machen kann, wenn es die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich bewältigen will.

Die Verlockung der Abkopplung

Europa hat sich lange über seine untergeordnete Rolle in den transatlantischen Beziehungen geärgert. Das kam in regelmäßigen Abständen beispielsweise in einer breiten Opposition gegen den Vietnamkrieg und den Irakkrieg zum Ausdruck. In jüngster Zeit auch in der Reaktion auf die „America First“-Politik von Präsident Donald Trump, seine Verunglimpfung multilateraler Institutionen (insbesondere der Europäischen Union) und seine Drohungen, die Vereinigten Staaten aus der NATO abzuziehen.

In den letzten Jahren haben sich ältere europäische Staats- und Regierungschef*innen für ein gewisses Maß an größerer europäischer Unabhängigkeit ausgesprochen. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sindein Stück vorbei“, sagte Bundeskanzlerin Merkel 2017 (Fußnote 1). „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“ 2018 äußerte sich der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker: „Wir wollen mehr Verantwortung und Unabhängigkeit“ und „jetzt schlägt die Stunde der europäischen Souveränität“ (Fußnote 2). Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist der lautstärkste Befürworter der europäischen Autonomie. „Es ist nicht so, dass wir die bestehenden Bündnisse oder Partnerschaften auflösen wollen“, sagte er im Juli, aber Europa brauche seine eigenen militärischen und technologischen Ressourcen, denn „Zusammenarbeit kann keine Abhängigkeit sein" (Fußnote 3). Diese Appelle für mehr europäische Autonomie sind nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan lauter geworden. „Es ist klar, dass der Bedarf an mehr europäischer Verteidigung noch nie so offensichtlich war wie heute“, sagte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell bei einem Treffen der europäischen Verteidigungs- und Außenminister*innen im September (Fußnote 4).

Unter den jüngeren Politiker*innen besteht auch der Wunsch, dass Europa besser auf eigenen Füßen stehen können soll, doch wird dieser Wunsch durch die Wahrnehmung seiner Grenzen abgeschwächt. „Donald Trump war gut für die europäische Souveränität“, sagte ein Mitglied der französischen Nationalversammlung von Macrons zentristischer Partei La République en Marche! (LREM). „Es ist nicht verrückt, europäische Souveränität aufzubauen. [Aber] der Wille, diese Unabhängigkeit in der Luft, im Weltraum und im Cyberspace zu erreichen, ist in der EU völlig neu. “Ein anderes LREM Mitglied unterstützte Macrons Wunsch nach europäischer Unabhängigkeit, räumte aber gleichzeitig ein, dass eine Abkopplung sehr komplex sei: „Jetzt, wo die USA nicht mehr berechenbar sind, müssen wir sicher gehen, dass wir, wenn wir etwas tun müssen, es auch tun können. Wir dürfen von den USA nicht zu abhängig sein. [Aber] wir sind uns darüber im Klaren, dasswir nicht völlig unabhängig sein können.“ Ein Mitglied der Grünen im Bundestag stimmte dem nur bedingt zu: „Um die Mittel zur Realisierung unserer Vorhaben zu erhalten, müssen wir in einigen Bereichen souveräner sein als in anderen. Das bedeutet, dass wir im Verteidigungssektor auf kurze Sicht nicht in der Lage sein werden, [souverän zu sein]. Im digitalen Sektor hat die EU mehr zu bieten als die USA und auch in einigen Bereichen grüner Technologie. [Aber] ich trenne [das] von Autonomie, alles allein zu machen und sich vom Rest der Welt abzukoppeln“.

Eine solche Befürwortung einer größeren europäischen Eigenständigkeit ist kein Antiamerikanismus alter Prägung. „Dies ist nicht gegen die USA gerichtet“, versicherte ein Mitglied des Europäischen Parlaments von der Mitte-Rechts-ÖVP. „Bei der strategischen Autonomie geht es um ein Europa, das besser in der Lage ist, innerhalb seiner Grenzen und im Ausland einen Beitrag zu leisten, ... nicht um den USA etwas entgegenzusetzen, sondern um sie besser zu unterstützen. Strategische Autonomie trägt zur transatlantischen Zusammenarbeit bei“.

Gleichzeitig sind nicht alle befragten jungen Abgeordneten der Meinung, dass die Abkopplung unbedingt machbar ist. „In einer Welt, die von Systemrivalität geprägt ist“, sagte ein Mitglied der Grünen im Bundestag, „werden wir nicht überleben, wenn [Europa und die Vereinigten Staaten] nicht zusammenstehen“. Ein Mitglied des Europäischen Parlaments von der Mitte-Rechts-Partei Kroatische Demokratische Union stimmte dem zu: „Wir müssen ehrlich sein. Wir können auf der globalen Bühne nicht wirksam handeln, weil wir noch einen einstimmigen Konsens unter den 27 EU-Mitgliedstaaten finden müssen.“ Ein Mitglied des spanischen Congreso de los Diputados von der konservativen Volkspartei äußerte sich noch deutlicher: „Wir sollten nicht nach Autonomie streben. Das ist keine gute Idee. Dafür haben wir keine Kapazitäten. Wir müssen auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, das heißt an der Seite der Vereinigten Staaten.“

Transatlantisches Vertrauen und der Abzug aus Afghanistan

Die transatlantische Zusammenarbeit angesichts gemeinsamer Herausforderungen setzt voraus, dass die Europäer*innen Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Vereinigten Staaten haben. „Vertrauen ist die wichtigste Voraussetzung, um miteinander zu reden, geschweige denn zusammenzuarbeiten‘“, sagte Mitglied der sozialdemokratischen Partei im bosnischen Parlament (Parlament Federacije Bosne i Hercegovine). Eine Bundestagsabgeordnete der Grünen pflichtete dem bei: „Wir müssen uns gegenseitig vertrauen“, sagte sie. „Das muss die Grundlage für die Lösung der großen Herausforderungen sein, vor denen [wir beide stehen]“.

Der abrupte Rückzug Washingtons aus Afghanistan und das Versäumnis, sich mit seinen europäischen Verbündeten über eine gemeinsame Rückzugsstrategie zu beraten und abzustimmen, löste bei Europas außenpolitischen Eliten Kritik aus, während die politische Führungsriege der nächsten Generation eher zurückhaltend reagierte. „Die öffentliche Wahrnehmung ist sehr stark auf innenpolitische Themen und auf das deutsche Versagen in Afghanistan fokussiert“, so ein Mitglied der FDP im Bundestag. „Ich höre kaum Vorwürfe gegen die USA und ihre Vertrauenswürdigkeit gegenüber Verbündeten und dem afghanischen Volk.“ Ein Mitglied der ÖVP im Europäischen Parlament sieht eine Mitverantwortung für das Scheitern in Afghanistan: „Der Westen hat in seiner Gesamtheit versagt. Es ergibt keinen Sinn, Schuldzuweisungen zu formulieren, denn das würde nur unseren Gegnern in die Hände spielen.“

Auch ist für die jungen europäischen Abgeordneten nicht der US-Präsident der Schuldige. „Das insgesamt positive öffentliche Image, das Präsident Biden hier genießt“, so ein christdemokratisches Mitglied des schwedischen Reichstags, „ermöglicht es ihm, Dinge zu tun oder vielleicht zu lassen, die Präsident Trump nicht tun könnte. Wäre Trump noch Präsident und würde dasselbe in Afghanistan passieren, würden die Menschen hier im Allgemeinen heftiger reagieren. [Daher] ist die Entwicklung in Afghanistan zwar tragisch, aber ich glaube nicht, dass sie das allgemeine Vertrauen in Amerika verändert.“

Unabhängig davon, wie sich der Abzug aus Afghanistan auf die Ansichten führender junger Politiker*innen über die Vereinigten Staaten aus-wirkt, geschieht dies vor dem Hintergrund eines stark geschwächten Vertrauens Europas in seinen Verbündeten in der Ära Trump. Am Ende der Trump-Präsidentschaft sank die Beliebtheit der USA in Europa um durchschnittlich 31 Prozent-punkte und erreichte in vier von sieben euro-päischen Ländern, die vom Pew Research Center (Fußnote 5) regelmäßig befragt wurden, den niedrigsten Stand aller Zeiten . „Zum ersten Mal“, beklagte ein LREM-Mitglied im französischen Parlament, „haben wir gesehen, dass die USA sich politisch von Europa abkoppeln wollten. Zum ersten Mal mussten wir uns mit Problemen befassen, ohne dass die Vereinigten Staaten hier waren, um die NATO zu stärken oder zu fördern.“

Mit der Wahl Bidens stieg die Beliebtheit der Vereinigten Staaten wieder stark an: Im Juni stieg sie in Frankreich um 34 Punkte, in Deutschland um 33, in Italien um 29, im Vereinigten Königreich um 23 und in Spanien um 22. In den meisten Ländern erstreckte sich dieser Anstieg auf alle Altersgruppen (Fußnote 6). Die Ansichten der jungen Parlamentarier*innen spiegeln im Allgemeinen diese Entwicklung wider. „Wir sind sehr froh, dass Biden Präsident ist“, sagte ein LREM-Mitglied im französischen Parlament. Ein Mitglied von Modern, einer liberalen Partei im Unterhaus des polnischen Sejm, merkte an: „Die Wahl gibt uns die Chance, das Vertrauen und die Beziehungen der EU zu den Vereinigten Staaten wiederherzustellen."

Doch aufgrund des Schadens, den die Trump Administration angerichtet hat, hegen einige führende junge Politiker*innen weiterhin Zweifel an der Zukunft der transatlantischen Zusammenarbeit. „Ich habe die amerikanische Führungsrolle in der Welt als selbstverständlich angesehen“, gab ein Mitglied der gemäßigten Mitte-Rechts-Partei im schwedischen Parlament zu. „Aber der Perspektivenwechsel in den Vereinigten Staaten bedeutet, dass die Amerikaner nicht bereit sind, diese Führungsrolle zu übernehmen.“ Ein FDP-Mitglied des deutschen Bundestags mit einer noch skeptischeren Haltung beklagte: „Die [deutsche] Öffentlichkeit glaubt immer noch, dass die Vereinigten Staaten ihre eigenen Interessen immer vor die gemeinsamen Interessen mit Europa stellen.“

Die führenden Entscheidungsträger*innen der nächsten Generation äußern sich auch skeptisch gegenüber der Annahme der Älteren, dass gemeinsame Werte ein Kitt sind, der Europa und die Vereinigten Staaten trotz ihrer politischen Unterschiede immer zusammenhalten wird. Für viele sind die Werte situationsabhängig. Gemeinsame Grundsätze – wie der Glaube an die Rechtsstaatlichkeit – werden als Grund dafür angeführt, dass die Vereinigten Staaten und Europa im Umgang mit China zusammenarbeiten sollten. Gleichzeitig werden unterschiedliche Wertvorstellungen in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre, den Klimawandel oder die Rolle des Staates als Hindernisse für die künftige transatlantische Zusammenarbeit gesehen.

„Vertrauen hängt nicht nur davon ab, wer der Präsident ist“, erklärte ein SDP-Abgeordneter im deutschen Parlament. „Wir müssen über die Herzen und den Verstand der Bürger sprechen. Vor allem, ob die Amerikaner mit unseren Ansichten über die Bekämpfung des Klimawandels und die Art und Weise der Regulierung übereinstimmen.“ Er hat seine Zweifel. Als Politikschaffende sind sich die Entscheidungsträger*innen der nächsten Generation darüber im Klaren, dass die nächste Prüfung für „Herz und Verstand“ die Kongresswahlen im Jahr 2022 sind, bei denen die Möglichkeit besteht, dass der Senat und das Repräsentantenhaus am Ende von den AmericaFirst-Republikaner*innen kontrolliert werden. „Ich vertraue Amerika“, sagte ein skeptisches Mitglied der Grünen in Berlin. „Aber ich traue nicht dem politischen System.“ Ebenso wenig vertrauen einige Abgeordnete dem amerikanischen Volk, von dem viele 2016 für Trump gestimmt und ihn 2020 fast wiedergewählt hätten.

Die Zukunft der transatlantischen Zusammenarbeit

Trotz der Rhetorik der Älteren über europäische Autonomie und Souveränität und trotz ihres eigenen Wunsches nach größerer europäischer Eigenständigkeit befürworten die führenden europäischen Politiker*innen der nächsten Generation angesichts der gemeinsamen Herausforderungen im Allgemeinen die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten.

China: Der gemeinsame Konkurrent

Bereits vor den jüngsten Entwicklungen in Afghanistan war China ein immer größer werdendes Thema in den transatlantischen Beziehungen, dank der gegenseitigen Besorgnis über seine wachsende wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, sein selbstbewusstes militärisches Auftreten und die Unterdrückung von Menschenrechten. Brüssel und Washington nahmen einen strategischen Dialog über China auf, und die NATO sprach zum ersten Mal über China als Sicherheitsbedrohung.

Auch die transatlantische Gemeinschaft war besorgt. Laut einer Umfrage des German Marshall Fund 2021 sehen sieben von zehn amerikanischen Befragten China als Rivalen an, ebenso wie durchschnittlich fast fünf von zehn europäischen Befragten (Fußnote 7). Auf beiden Seiten des Atlantiks bezeichnen etwas weniger Millennials, die Gruppe der nächsten Generation politischer Verantwortungstragender, China als Rivalen. Gleichzeitig sind sich die europäischen und amerikanischen Befragten im Allgemeinen einig, dass in den Bereichen Menschenrechte, Cybersicherheit und Klima eine härtere Gangart gegenüber China eingeschlagen werden sollte.

Die meisten jungen Politiker*innen in Europa sprechen sich für eine engere Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten im Umgang mit China aus. „China ist die größte langfristige Herausforderung für die innere Kohärenz der transatlantischen Gemeinschaft“, so ein Mitglied der Modern-Partei in Polen. Ein FDP-Mitglied des deutschen Bundestages erklärte dazu: „Die öffentliche Meinung zu China ändert sich in Deutschland dahingehend, dass China als Risiko anerkannt wird. Ich glaube, dass dies dazu führen wird, dass Amerika als ‚vertrauenswürdig‘ angesehen wird, wenn es um die Sicherheit und Fragen im Zusammenhang mit China geht“. Ein Mitglied der Moderaten Partei in Schweden stimmte dem zu: „Wir müssen mit den Vereinigten Staaten in Bezug auf China zusammenarbeiten. China hat einen langfristigen Plan, und wenn wir nicht zusammenarbeiten, werden wir definitiv verlieren.“

Mit die freimütigste Kritik an China und Befürwortung der transatlantischen Zusammenarbeit im Umgang mit China kommt von jungen Politikerschaffenden der politischen Rechten. „Chinas Macht wächst, nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und wissenschaftlich“, so ein Abgeordneter der rechtsgerichteten Alternative für Deutschland (AfD) im deutschen Parlament. „Wenn es zu dieser Konfrontation kommt, muss jeder entscheiden, wen er unterstützen will. Wir können uns vor diesem Konflikt nicht verstecken. Wir müssen uns für eine Seite entscheiden, für die Seite der USA. Unsere Position muss die USA gegen den wachsenden chinesischen Einfluss unterstützen.“ Ein Mitglied der rechten Lega-Partei in der italienischen Abgeordnetenkammer (Camera dei Deputati) bestätigte dies: „Wir müssen China im Zaum halten, das ist die wichtigste Herausforderung.“ Und er sagte unaufgefordert: „Wir müssen Taiwan beistehen.“ Die Auffassungen der nächsten Generation führender Politiker*innen über China hängen zum Teil davon ab, woher sie kommen. Angesichts der unterschiedlichen nationalen Interessen und Erfahrungen mahnen einige junge Abgeordnete zur Vorsicht. „Wir haben nicht zu 100 Prozent die gleichen Interessen wie die Vereinigten Staaten in Bezug auf China“, sagte ein Mitglied der Grünen im Bundestag. „Die deutsche China-Politik wird von wirtschaftlichen Interessen bestimmt. Unsere Wirtschaft hängt von den Exporten nach China ab. Solange wir so abhängig sind, wird es kaum möglich sein, eine harte Haltung gegenüber China einzunehmen“.

Zwölf mitteleuropäische EU-Mitgliedstaaten und fünf Balkanländer sind Mitglieder des 17+1- Formats, mit dem Peking versucht, Europa in seine „Belt and Road Initiative” einzubinden. Ungarn unterhält immer engere Handelsbeziehungen zu China. Die Vorteile solcher Verbindungen mit China haben die Erwartungen nicht erfüllt, aber ihr Versprechen hat in Europa eine Ost-WestSpaltung ausgelöst. „In Kroatien ist die Situation anders als in den Vereinigten Staaten“, bemerkte ein Mitglied des Europäischen Parlaments von der Kroatischen Demokratischen Union. „Die Menschen haben China nicht auf dem Radar. Das wird sich ändern, aber im Moment sind wir noch nicht in dieser Phase. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern haben wir mit China keine schlechten Erfahrungen gemacht.“ Ein sozialdemokratisches Mitglied des Parlaments in Bosnien und Herzegowina stimmte dem zu: „In Bosnien gibt es kein China-Problem. Wir haben keine große Angst vor China.“ Trotz des allgemeinen Enthusiasmus für die transatlantische Zusammenarbeit
im Hinblick auf China müssen die jungen euroeuropäischen Politiker*innen also zunächst ihre internen Differenzen in dieser Frage klären.

Technologische Führungsrolle

Zum Teil stellt China eine wirtschaftliche Herausforderung dar, die sich aus den wachsenden Kompetenzen des Landes im Bereich der neuen Technologien wie künstliche Intelligenz, moderne Computerchips und Quantencomputer ergibt. Peking verfügt über das Geld, das wissenschaftliche Know-how und die Marktgröße, um mit Europa und den Vereinigten Staaten zu konkurrieren. Die nächste Generation führender europäischer Politiker*innen ringt mit der Frage, was in dieser Situation zu tun ist. Bei der GMF-Umfrage 2021 gaben sechs von zehn Europäer*innen und Amerikaner*innen an, dass sie die transatlantische Zusammenarbeit in Technologiefragen als wirksamen Weg ansehen, um mit China zu konkurrieren – eine Meinung, die von Millennials auf beiden Seiten des Atlantiks geteilt wird (Fußnote 8).

Ein Mitglied der Grünen im Bundestag betrachtete die Situation realpolitisch: „Die Entwicklungen in der Geschichte wurden immer von der Technik bestimmt. Wenn es also einen Bereich gibt, in dem wir zusammenarbeiten müssen, dann in Technologiefragen.“ Ein Mitglied der Moderaten Sammlungspartei in Schweden drückte es pragmatisch aus: „Was die Technologie betrifft, haben wir in Europa nicht die Kapazitäten. Wir haben keine andere Wahl, keine andere Möglichkeit, als mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten.“ Möglicherweise haben die Parlamentarier*innen der nächsten Generation in ihrem eigenen Leben einen so raschen technologischen Wandel erlebt, dass sie ehrgeizig sind und sich mit der transatlantischen technologischen Zusammenarbeit wohl fühlen. „Eine der klügsten Ideen wäre es, in einigen Bereichen zusammenzuarbeiten, ähnlich wie wir es in Europa mit Airbus handhaben“, schlug ein LREM-Mitglied in Frankreich vor. „Wir brauchen ein so großes europäisch-amerikanisches Projekt.“

Ein Mitglied des Europäischen Parlaments von der Partei Das Neue Österreich und Liberales Forum schlug vor: „Wir sollten für die Forschung ein ähnliches Ziel wie das Ausgabenziel der NATO haben. Dies wäre ein Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit, aber auch ein Mittel, um öffentlichen Druck für mehr Investitionen in Technologie auszuüben. Der Rest ist eine Frage der Regulierung. Wir brauchen regulatorische Veränderungen, um Unternehmen und Forschungseinrichtungen die Zusammenarbeit zu erleichtern.“ Doch regulatorische Konvergenz ist leichter gesagt als getan. In puncto Regulierung sieht sich die EU selbst als globalen Trendsetter, worauf die jungen europäischen Parlamentarier*innen stolz sind. Aber wenn es um die technologische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten geht, so ein Mitglied des Europäischen Parlaments von der sozialistischen PASOK-Partei Griechenlands, „geht es um unterschiedliche Standpunkte hinsichtlich der Standards“.

Darüber hinaus stehe die Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Zukunftstechnologien – seien sie militärisch oder wirtschaftlich – im Widerspruch zum europäischen Streben nach technologischer Souveränität, insbesondere in Deutschland. „Ich will nicht, dass Europa allein die Standards setzt“, protestierte ein Abgeordneter der Grünen in Berlin. „Ich möchte, dass die Technologie auch hier entwickelt wird.“ Ein anderes Parteimitglied der Grünen pflichtete ihm bei: „Wenn wir bereits relevante Unternehmen und Akteure haben, sehe ich keinen Sinn darin, mit amerikanischen Unternehmen zusammenzuarbeiten, amerikanische Standards zu übernehmen und unsere europäischen Unternehmen zu zerstören. Ich will nicht, dass Europa allein die Standards setzt. Ich möchte, dass die Technologie auch hier entwickelt wird.“ Es wird die Aufgabe des kürzlich eingerichteten Handels- und Technologierates EU-USA sein, die transatlantische Zusammenarbeit im Technologiebereich zu koordinieren und gleichzeitig die offensichtlichen Unterschiede handzuhaben. Die nächste Generation führender europäischer Politiker*innen steht dem Ganzen positiv gegenüber, ist aber skeptisch.

Wirtschaftliche Wiederbelebung und Transformation

Der transatlantische Markt stellt die weltweit reichste und am stärksten integrierte Handels- und Investitionsbeziehung dar. Auch die lange Geschichte von Handelsstreitigkeiten, das jüngste Scheitern der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) und ein anhaltender, von der Trump-Administration initiierter Handelskrieg machen dem Land zu schaffen. Vor diesem Hintergrund befürworten etwa drei Viertel der Amerikaner*innen und durchschnittlich nahezu ebenso viele Europäer*innen in der GMF-Umfrage 2021 eine engere transatlantische wirtschaftliche Zusammenarbeit, eine Einstellung, die von Millennials auf beiden Seiten des Atlantiks stark geteilt wird (Fußnote 9).

„Es ist schade, dass TTIP nicht funktioniert hat, aber wir können auf jeden Fall beim Handel enger zusammenarbeiten“, sagte ein Mitglied der Volkspartei (Partido Popular) in Spanien. „Dies ist eines der Themen, an denen wir mit den Vereinigten Staaten arbeiten können. Es ist für die Menschen sehr greifbar.“ Ein Mitglied des Europäischen Parlaments von der liberalen NEOSPartei in Österreich schlägt einen ähnlichen Ton an: „Ich war immer ein großer Fan von TTIP. Es war traurig, dass es nicht funktioniert hat. Freihandelsabkommen werden eine neue Rolle spielen müssen. Warum hat niemand die Fantasie, ein klimaneutrales Handelsabkommen zu schließen, was meiner Meinung nach eine großartige Idee wäre? Je größer unsere Handelszone ist, desto mehr sind wir gegen Chinas Einfluss ‚immunisiert‘.“

Die Regierung Biden hat jedoch kein unmittelbares Interesse an ehrgeizigen neuen transatlantischen Handelsinitiativen gezeigt. Falls und wenn es dazu kommt, könnten sich die europäischen Parlamentarier*innen der nächsten Generation als Verbündete erweisen.

Der Klimawandel: Die gemeinsame existenzielle Herausforderung

Nach dem jüngsten alarmierenden Bericht des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) (Fußnote 10) und mit Blick auf die UNKlimakonferenz im November in Glasgow, Schottland, steht die Zusammenarbeit zur Verlangsamung der globalen Erwärmung ganz oben auf der transatlantischen Agenda der jüngeren führenden Politiker*innen in Europa. Laut Umfragen des Pew Research Center sehen die Europäer*innen (im Durchschnitt 70 Prozent) den Klimawandel eher als eine große Bedrohung an als die Amerikaner*innen (62 Prozent) (Fußnote 11), aber dieser Unterschied hat sich im Laufe der Jahre verringert (Fußnote 12). Und zwei Drittel der Europäer*innen und Amerikaner*innen, einschließlich der Millennials, sind der Meinung, dass ihre Länder mehr zur Bekämpfung der globalen Erwärmung tun sollten (Fußnote 13).

Die Politiker*innen der nächsten Generation haben ein Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung. „Wir müssen den Klimawandel zu unserer ‚Mensch-auf-dem-Mond‘-Herausforderung machen“, sagte ein SDP-Mitglied des deutschen Parlaments. „Etwas, das die Menschen für die Anpassung an Klimawandel und die Eindämmung des Klimawandels mobilisiert.“ Ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei in Bosnien und Herzegowina erkannte zwar die Gefahr der globalen Erwärmung an, warnte jedoch, dass nicht alle Europäer*innen dem Klimaschutz Priorität einräumen: „Das Thema ist nicht sehr populär, weil die Menschen das Gefühl haben, dass es zu viele andere Probleme gibt, um die sie sich kümmern müssen.“ Ähnlich äußerten sich auch einige junge polnische Abgeordnete.

Es gibt auch Zweifel, ob man sich auf Washington als Klimapartner verlassen kann. „Das große Problem ist, dass eine der großen Parteien in den USA den Klimawandel nicht als Problem anerkennt“, bemerkte ein Mitglied der Partei Die Moderaten im schwedischen Riksdag. „Selbst wenn die Demokraten vertrauenswürdig sind, ist es ein Problem, dass die andere Partei es nicht ist.“ Eine solche parteiische Haltung stellt ein potenzielles Problem für die Führungsrolle der USA im Bereich des Klimaschutzes in den transatlantischen Beziehungen dar, warnte ein Mitglied der schwedischen Christdemokraten: „Wenn es einen Einzelaspekt gibt, der [das schwedische Vertrauen in Amerika] bedroht, dann ist es die Art und Weise, wie die Regierung Biden mit dem Klimawandel umgeht.“

Solche Zweifel könnten ein Grund dafür sein, dass die nächste Generation von Staats- und Regierungschef*innen nur wenige ehrgeizige Vorschläge macht, wie die Vereinigten Staaten und Europa zusammenarbeiten könnten, um die globale Erwärmung zu verlangsamen, obwohl sie eine solche Zusammenarbeit befürworten.

Sicherheit in einem Umfeld gemeinsamer Bedrohungen

Die Sorge um die von Russland ausgehende Sicherheitsbedrohung war der Kitt, der das transatlantische Bündnis der Nachkriegszeit zusammengehalten hat. Doch viele Europäer*innen sehen diese sicherheitspolitische Herausforderung heute anders als die Amerikaner*innen. Laut PewUmfragen haben sieben von zehn Amerikaner*innen (71 Prozent) eine negative Einstellung zu Russland, aber nur 57 Prozent der Befragten in Frankreich und 50 Prozent der italienischen Befragten (Fußnote 14). Die jüngeren Europäer*innen sehen Moskau eher wohlwollend. In Deutschland zum Beispiel haben 44 Prozent der 18- bis 29-Jährigen eine positive Meinung von Russland, während nur 25 Prozent der über 50-Jährigen Moskau in einem so positiven Licht sehen. Auch innerhalb Europas gibt es Differenzen über die Beziehungen zu Russland, die Verteidigungsausgaben und die künftigen Sicherheits-prioritäten. Das Scheitern der gemeinsamen Anstrengungen in Afghanistan wird die Lage nicht verbessern.

Die Ansichten der nächsten Generation führender Politiker*innen spiegeln diese Spaltungen wider. Sie bringen keine Vorbehalte gegenüber der zentralen Bedeutung des transatlantischen Sicherheitsbündnisses zum Ausdruck. Sie stellen auch nicht die Rolle der NATO in Frage (obwohl die schwedischen Befragten nicht den Wunsch äußern, dass ihr Land der NATO beitritt). Einige deutsche Abgeordnete, die einen neuen Kalten Krieg befürchten, wollen sich jedoch nicht zwischen Washington und Moskau entscheiden müssen. „Wir müssen bessere Beziehungen zu Russland bekommen“, argumentierte ein AfDAbgeordneter in Berlin. „Dies ist eine der Fragen, in denen sich unsere Position und die der Vereinigten Staaten unterscheiden. Deutschland profitiert von besseren Beziehungen zu Russland. Natürlich gibt es auch in Russland, wie in jedem Land, einiges zu kritisieren. Aber wir sollten uns nicht zwischen den USA und Russland entscheiden. Wir müssen gute Beziehungen zu beiden haben“.

Es überrascht nicht, dass Polen und Polinnen und andere Mittel- und Osteuropäer*innen, die einst unter sowjetischer Herrschaft standen, Russland mit mehr Skepsis betrachten und die Vereinigten Staaten um Unterstützung bitten. „Kleine Länder in Osteuropa erwarten, dass sich die Vereinigten Staaten einschalten, wenn es Probleme gibt“, sagte ein Mitglied der Partei Kroatische Demokratische Union im Europäischen Parlament. „Trump hat neue Stützpunkte in Polen errichtet und unser Visaproblem gelöst“, sagte ein Mitglied der rechtsgerichteten Partei Recht und Gerechtigkeit in Polen anerkennend. Dennoch gibt es Zweifel an der künftigen Zuverlässigkeit der Vereinigten Staaten: „Ich bin besorgt über Biden.“ Diese Skepsis wird von einigen französischen Abgeordneten geteilt. „Wenn die USA ein starker Akteur gegenüber Russland sein wollen“, bemerkte ein LREM-Mitglied, „müssen sie uns zeigen, dass sie zuverlässig sind. Die USA haben uns in den letzten 10 Jahren in einigen Fällen mit Russland allein gelassen. Ein paar deutliche Worte aus den USA allein werden nicht ausreichen.“

Das Problem, dass Europa das NATO-Ziel, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, generell nicht erreicht hat – ein wunder Punkt für viele Amerikaner*innen – wurde nur von wenigen Abgeordneten angesprochen. Die polnischen Befragten waren stolz darauf, dass Warschau diesen Standard erreicht hatte, ein rechtsgerichteter Deutscher beklagte das Versagen seines Landes, aber andere ignorierten das Thema weitgehend.

Auf dem Balkan sehen junge Abgeordnete die transatlantische Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit eher in struktureller Hinsicht. Sie wollen die Unterstützung der Vereinigten Staaten für ihre Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Union, nicht nur um sich gegen Russland zu verteidigen, sondern auch um ihre Bindungen an den Westen zu festigen. Wie ein Mitglied der Sozialistischen Partei in Albanien Kuvendi i Shqipërisë bemerkte: „Die Agenda der EU und der NATO ist Teil von etwas Größerem, es geht um Identität, eine Mentalität der Integration, das ist wichtig.“

Zwei befragte Abgeordnete in Deutschland und Österreich äußerten Sicherheitsbedenken gegenüber Afrika. „Wenn die Franzosen Mali verlassen, wird es dann ähnlich wie in Afghanistan sein?“ fragte ein Mitglied der Christlich Demokratischen Union in Berlin. „Niemand hat Mali im Blick. Doch während Afghanistan in den Hintergrund rückt, werden wir uns zunehmend auf Mali konzentrieren müssen. Viele Migranten kommen nach Europa, deshalb müssen wir dort aktiv werden.“ Ein Mitglied der Volkspartei in Wien stimmte dem zu und schlug vor, den transatlantischen Schwerpunkt auf Nordafrika zu legen, da die dortige Instabilität zu mehr Migration nach Europa führen werde, was wiederum eine politische Destabilisierung in der EU zur Folge hätte. „Ich denke, dass es für Europa und die USA sehr wichtig ist, in Bezug auf Nordafrika zusammenzuarbeiten“, sagte er. Abgesehen von mehr Entwicklungshilfe hatte er jedoch keine Vorschläge, wie diese Zusammenarbeit aussehen könnte.

Auch die nicht traditionellen Sicherheitsbedrohungen werden allgemein anerkannt. „Wir sind bereits mit einer hybriden Kriegsführung durch die Russen, die Chinesen, die Türken und nichtstaatliche Akteure konfrontiert“, beklagte ein ÖVP Mitglied im Europäischen Parlament. „Sie wollen Europa schwächen, indem sie unsere Gesellschaften spalten. Nicht nur Europa, sondern auch Amerika. Es muss eine Zusammenarbeit zwischen gleichgesinnten Ländern geben“, um dieser Herausforderung zu begegnen.

Eine transatlantische Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, die breiter gefasst ist als in den vorhergehenden Generationen, bleibt eine wichtige Priorität für junge europäische Politiker*innen. Doch die diffuse Natur des Themas, die Erfahrungen in Afghanistan sowie die Konzentration der Biden-Administration auf den Wiederaufschwung im eigenen Land und China werden die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich noch schwieriger machen.

Fazit

Im Herbst 2021 haben die führenden europäischen Politiker*innen der nächsten Generation trotz der Turbulenzen der Trump-Jahre und der Schuldzuweisungen in Bezug auf Afghanistan einen hoffnungsvollen, aber realistischen Blick auf die transatlantischen Beziehungen. Sie erkennen die Notwendigkeit und das Potenzial für neue Wege der amerikanisch-europäischen Zusammenarbeit in den Bereichen China, Technologie, Wirtschaft, Klimawandel und Sicherheit.

Sie sind sich auch der künftigen Herausforderungen bewusst. „Im Moment sind die Erwartungen sehr hoch“, sagte ein Mitglied der Grünen im schwedischen Parlament. „Biden wird aber liefern müssen, um dieses Vertrauen in vielen Bereichen zu erhalten.“ Auch Europa wird sich engagieren müssen. „Es ist keine Frage der Vertrauenswürdigkeit“, bemerkte ein Mitglied des Europäischen Parlaments von der Kroatischen Demokratischen Union. „Europa muss über Autarkie und strategische Autonomie nachdenken, [weil] Amerika nicht immer da sein wird, um unsere Probleme zu lösen.“

Als Politiker*innen sind die Vertreter*innen der nächsten Generation sensibilisiert dafür, was die kulturellen und systemischen politischen Grenzen der transatlantischen Zusammenarbeit angeht. „Manchmal vergessen wir, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten ein ganz anderes politisches System haben als die Vereinigten Staaten“, sagte ein Mitglied der Fünf-Sterne-Bewegung im italienischen Parlament. „Wir vergessen, dass die Vereinigten Staaten und Europa Lösungen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben können. Wir denken, dass die Beziehungen nicht gut sind, weil wir keine Ergebnisse vorweisen können, aber das Ausbleiben von Ergebnissen ist nicht ein Problem der Beziehungen, sondern das Ergebnis der beiden unterschiedlichen Systeme.“

Idealistisch und doch realistisch, transatlantisch orientiert und doch für ein selbständigeres Europa eintretend, mit einer Weltanschauung aus. der Zeit nach dem Kalten Krieg und einer Sensibilität der Generation, die auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts eingestellt ist, sind die jungen führenden Politiker*innen Europas bereit, die künftigen amerikanisch-europäischen Beziehungen zu gestalten, so wie es es die Gründergeneration der modernen transatlantischen Beziehungen vor 75 Jahren tat. Ihre Stimmen müssen gehört werden.

Der Autor dankt Matthew Delmastro und Stefan Veigl für die Unterstützung beim Verfassen dieses Policy Briefs.

  • Infokasten

    Die diesem Policy Brief zugrunde liegenden Interviews wurden im Anschluss an die 150 Interviews geführt, die im Vorfeld des Berichtes „Together or Alone: Choices and Strategies for Transatlantic Relations for 2021 and Beyond“ durchgeführt wurden, der Bericht der vom German Marshall Fund of the United States und der Bundeskanzler Helmut-Schmidt-Stiftung einberufenen Task Force aus dem Jahr 2020. In Ergänzung zu den ersten Interviews der Task Force und um die Ansichten junger führender Politiker*innen in Europa besser widerzuspiegeln, wurden zwischen April und August 2021 40 zusätzliche Gespräche mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente in ganz Europa geführt. Die Befragten repräsentierten eine Reihe politischer Parteien aus 16 europäischen Ländern. Bis auf wenige Ausnahmen waren alle unter 40 Jahre alt. Diese Interviews spiegeln nicht notwendigerweise das gesamte Meinungsspektrum junger führender Politiker*innen in Europa wieder, die alle ihre eigenen Erfahrungen, Ideologien und Nationalitäten haben. Sie geben vielmehr eine Auswahl der Ansichten derjenigen wieder, die bereit und in der Lage waren, sich auf Englisch interviewen zu lassen. In Anbetracht ihrer Interessen und ihrer Sprachkenntnisse sind sie möglicherweise eher bereit, die transatlantische Zusammenarbeit zu unterstützen als eine Gruppe von Befragten, die eine größere Vielfalt aufweist. Um Offenheit zu gewährleisten, wurden alle Gespräche anonymisiert geführt. Die von der Task Force ermittelten Herausforderungen bildeten den Rahmen für die Gespräche, waren aber nicht auf diese beschränkt: China, Technologie, Klimawandel, wirtschaftliche Erholung und Sicherheit.

Fußnoten

Fußnote 1: Giulia Paravicinia, “Angela Merkel: Europe must take ‘our fate’ into own hands,” Politico, 28. Mai 2017.
Fußnote 2: Jean-Claude Juncker, “State of the Union 2018,” Europäische Kommission, 12. September 2018.
Fußnote 3: New York Times, “Macron Tells Biden That Cooperation With U.S. Cannot Be Dependence,” 29. Januar 2021.
Fußnote 4: Al Jazeera, “EU pushes for more defence autonomy amid Afghanistan fallout,” 2. September 2021.
Fußnote 5: Pew Research Center, America’s Image Abroad Rebounds With Transition From Trump to Biden, 10. Juni 2021.
Fußnote 6: Ebd.
Fußnote 7: German Marshall Fund of the United States, Transatlantic Trends 2021, Juni 2021.
Fußnote 8: Ebd.
Fußnote 9: Ebd.
Fußnote 10: Intergovernmental Panel on Climate Change, Climate Change 2021: The Physical Science Basis, 2021.
Fußnote 11: Pew Research Center, Many globally are as concerned about climate change as about the spread of infectious diseases, October 16, 2020.
Fußnote 12: Pew Research Center, What the world thinks about climate change in 7 charts, 18. April 2016.
Fußnote 13: Für den German Marshall Fund of the United States erhobene Daten, Transatlantic Trends 2021.
Fußnote 14: Pew Research Center, Views of Russia and Putin remain negative across 14 nations, 16. Dezember 2020.