BKHS-Blickwinkel 03_2021

EU-Friedensförderung unter Chinas Einfluss: eine wachsende Herausforderung? Autor*innen: Dr. Julia Strasheim, Subindra Bogati

Zentrale Erkenntnisse


#1: China beteiligt sich immer mehr an Maßnahmen internationaler Friedensförderung. Dabei priorisiert das Land den Wiederaufbau von Infrastruktur und wirtschaftliche Entwicklung gegenüber politischen Reformen. Expert*innen bezeichnen diesen Ansatz als Konkurrenz für das ohnehin in der Kritik stehende Modell „Frieden durch Demokratieförderung“, für das auch die Europäische Union (EU) steht.

#2: Doch was denken Menschen in Konfliktländern selbst über diesen Wettbewerb? Wir gehen dieser Frage am Beispiel von Nepal nach, wo wir seit 2015 mit über 70 Vertreter*innen aus Politik, Journalismus, Zivilgesellschaft, Militär, Polizei und internationalen Organisationen gesprochen haben.

#3: Chinas wachsender Einfluss im Land hat deutliche Auswirkungen auf den Friedensprozess und hat den Blick auf die europäischen Bemühungen verändert. Das zeigt sich in allen wichtigen Bereichen des Friedensprozesses, von der Verfassung über die Situation der Zivilgesellschaft bis zu Fragen von Sicherheitssektorreform und Menschenrechten.

#4: Gleichzeitig zeigt das Beispiel Nepal, wie resilient kleine Länder in manchen Bereichen gegenüber Chinas Einfluss sein können und dass Rückschläge im Ansatz „Frieden durch Demokratieförderung“ auch mit dem europäischen Engagement selbst zu tun haben. Missstände wie beispielsweise Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit sollten von der EU unabhängig von den Aktivitäten Chinas in diesem Politikfeld angegangen werden.

#03_2021 – 13. Dezember 2021

EU-Friedensförderung unter Chinas Einfluss: eine wachsende Herausforderung?

Dr. Julia Strasheim, Subindra Bogati

Frieden nicht nur in Europa, sondern auch in der europäischen Nachbarschaft und der Welt insgesamt zu fördern: Dieses Ziel ist fest im Selbstverständnis der Europäischen Union (EU) verankert und wird in den außenpolitischen Handlungen und Budgetentscheidungen der Union deutlich.

Die EU gehört seit Jahren zu den wichtigsten globalen Kräften in der Prävention und Bewältigung gewaltsamer Konflikte und der Förderung nachhaltigen Friedens. Seit 2003 hat sie im Rahmen ihrer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mehr als 35 militärische und zivile Missionen durchgeführt. EU-Vertreter*innen haben in dieser Zeit an hunderten Friedensverhandlungen teilgenommen oder diese beraten. Seit 2007 haben EU-Institutionen, gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten Deutschland, Schweden und, bis 2020, Großbritannien, 47 Prozent der globalen Entwicklungshilfe für Friedensförderung bereitgestellt (Sherriff et al. 2018). Die EU-Mitglieder tragen zudem mehr als ein Drittel zum Budget für Friedenseinsätze der Vereinten Nationen (United Nations, UN) bei. Lange stand die EU dabei für den dominierenden Ansatz westlicher Friedensförderung seit Ende des Kalten Kriegs, der in der Stärkung von Demokratie das beste Rezept gegen neue Gewalt sieht (liberal peacebuilding).

Krise der Friedensförderung nach westlichem Vorbild

Dieser Ansatz steht heute erheblichen Herausforderungen gegenüber. Gründe dafür sind die tiefe Enttäuschung über die fehlenden Erfolge ehrgeiziger Friedenseinsätze in den 1990er- und 2000erJahren, wie in Afghanistan, und die damit verbundene Einsicht, dass sich Demokratie nach westlichem Vorbild nicht exportieren lässt. Demokratisierung erwies sich auch nicht immer als der beste Weg zum Frieden.

Die Krise der Friedensförderung hat auch innereuropäische Ursachen. Die Autokratisierung von Mitgliedsstaaten wie Ungarn oder Polen hat das Potenzial, die Legitimität der EU zu untergraben. Europäische Sicherheitsinteressen im Kampf gegen Terrorismus und der Kontrolle irregulärer Migration haben in Ländern wie Mali zu einer Abkehr von der „Frieden durch Demokratie“-Agenda und einer Hinwendung zu verstärkt sicherheitspolitischen Ansätzen geführt (Saferworld 2021).

Zu den größten Herausforderungen gehört jedoch eine Weltordnung im Wandel, in der der Aufstieg der Volksrepublik China eine neue Realität für die EU darstellt. China wurde bis in die 2010er-Jahre als zögerlicher außenpolitischer Akteur beschrieben, der sich ob seiner strengen Doktrin der Nichteinmischung und der Achtung territorialer Integrität und staatlicher Souveränität nicht an Friedensförderung beteiligt (Newman und Li 2020). Das hat sich geändert. 2020 steuerte China mehr als 15 Prozent des UN-Budgets für Friedensmissionen bei und zählte zu den größten Truppenstellern dieser Einsätze. Mit der Belt and Road Initiative (BRI) ist auch Chinas Entwicklungspolitik in den Fokus gerückt. In Konfliktländern ist das Land nicht nur mit Investitionen aktiv, sondern auch in der Mediation. Prioritäten chinesischer Friedensförderung sind dabei nicht politische Reformen, sondern wirtschaftliche Entwicklung, Armutsbekämpfung und Infrastrukturausbau (Kuo 2020).

Europäische wie chinesische Expert*innen bezeichnen diese Entwicklung als Konkurrenzmodell für die Friedensförderung des Westens (Abb 2018). Doch wir wissen wenig darüber, was Menschen in Konfliktländern selbst über diesen Wettbewerb denken. Das liegt auch daran, dass die meisten Studien zu EU-Friedensförderung untersuchen, wie Strategien und Instrumente in Brüssel und den Mitgliedsstaaten entstehen. Seltener wird darauf geschaut, wie diese Politik in Konfliktländern umgesetzt und wahrgenommen wird. Das ist erstaunlich, da die Legitimität von Friedensförderung bei politischen Eliten und der Bevölkerung vor Ort einer ihrer wichtigsten Erfolgskriterien ist (Müller und Zahda 2018).

Wir untersuchen daher, wie Beteiligte am nepalesischen Friedensprozess Chinas wachsenden Einfluss und dessen Auswirkung auf die Rolle der EU im Land bewerten. Nepal ist ein besonders prädestinierter Fall für dieses Vorhaben. Im November 2006 beendete dort ein Friedensvertrag den zehn Jahre zuvor ausgebrochenen Bürgerkrieg. Seither wird der Frieden von der EU und den Mitgliedsstaaten unterstützt. Europäische Politiker*innen und Expert*innen nennen Nepal eine „bemerkenswerte“ Erfolgsgeschichte ihrer Friedensförderung (Martin 2008) und einen „Liebling westlicher Geber“ (Campbell 2012). Jedoch ist auch 15 Jahre nach Kriegsende der Friedensprozess nicht abgeschlossen, etwa da eine Aufarbeitung der Kriegsverbrechen durch eine Übergangsjustiz nur langsam voranschreitet.

Zugleich ist Nepal als Ziel- und Transitland für Geflüchtete aus Tibet eine besonders sensible politische Angelegenheit für China. Ähnlich zu den Unruhen in Tibet im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking brachen 2008 auch anti-chinesische Proteste in Kathmandu aus. Seitdem hat die chinesische Regierung ihren Einfluss in Nepal vergrößert. Was bedeutet das für den Friedensprozess – und die Rolle der EU?

Nepal: Geopolitische Richtungswechsel unter Chinas Einfluss

Nicht immer hatte China eine derart bedeutende Rolle in Nepal. Über Jahrzehnte war Indien der größte außenpolitische Partner der wechselnden Regierungen Nepals. Der große Nachbarstaat gehörte zu den wichtigsten entwicklungspolitischen Geldgebern, wie auch die EU und ihre Mitglieder. Bis zum Kriegsende 2006 konzentrierte sich das EU-Engagement auf Themen wie Landwirtschaft, Armutsbekämpfung oder Grundschulbildung. Mit dem im selben Jahr geschlossenen Friedensvertrag begann dann die Umsetzung einer liberalen Friedenspolitik. Etwa konzentrierten sich neun von zehn EU-Projekten zwischen 2007 und 2013 auf Aspekte wie Demokratie, Frieden oder „gute Regierungsführung“ (Chand 2019). Das hatte großen Erfolg: das Land machte schnell Fortschritte im Bereich Demokratisierung und demobilisierte erfolgreich die ehemaligen Kämpfer*innen der Rebellenbewegung.

Die Erdbeben von 2015 und ihre geopolitischen Folgen

Ein entscheidender Wendepunkt im Verhältnis Nepals zu Indien waren die Ereignisse im Jahr 2015, die gleichzeitig Auswirkungen für europäische Organisationen im Land hatten. Bei Erdbeben im April und Mai kamen über 9.000 Menschen ums Leben. Die sensationalistische Berichterstattung und herablassende Darstellung von Überlebenden in indischen Medien führten zu einer heftigen Gegenreaktion in Nepal. Über Wochen dominierte etwa der Hashtag #GoHomeIndianMedia die Sozialen Medien.

Im September verabschiedete das Parlament in Kathmandu eine neue Verfassung – ein Meilenstein im Friedensprozess, auf den sich die Politik neun Jahre lang nicht hatte einigen können. Doch ethnische Minderheiten beklagten (zu Recht) diskriminierende Verfassungsartikel, etwa in Bezug aufStaatsbürgerschaft. Bei Protesten starben über 60 Menschen. Die Proteste wurden auch von der Regierung Modi in Indien unterstützt, die eine monatelange Grenzblockade errichtete. Der folgende dramatische Mangel an Vorräten wie Benzin oder Arzneimittel befeuerte die „Anti-Indien-Stimmung“ in Nepal weiter.

Chinas wachsender Einfluss – nicht nur in ökonomischer Hinsicht

China verstand es, die Situation zu nutzen, um sich als gütiger Nachbar zu präsentieren und Nepal zum Zentrum seines geopolitischen Manövrierens und regionalen Machtkampfs mit Indien zu machen. Das geschah nicht nur in Wirtschaftsfragen. Seit 2015 sind chinesische Investor*innen die Quelle ausländischer Direktinvestitionen in Nepal. Die Zahl chinesischer Tourist*innen stieg 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 11 Prozent auf 169.543 und erreichte damit Platz zwei hinter Indien (Nepal Tourism Board 2021). China ist auch ein zentraler (aber nicht der einzige) Unterstützer in Nepals Kampf gegen das Coronavirus (Pal 2021).

Im Jahr 2017 trat Nepal offiziell der BRI bei. Im selben Jahr gewann eine Allianz der zwei größten linken Parteien – der Vereinigten Marxistisch-Leninistischen Partei und der Maoisten – mit klaren Anti-Indien-Positionen die Parlamentswahl. Beide Parteien fusionierten 2018 zur Kommunistischen Partei Nepals (Nepal Communist Party, NCP). In den Folgejahren übte die chinesische Regierung „enormen Einfluss“ auf die NCP aus (Ramachandran 2020). So intervenierte Botschafterin Hou Yangi regelmäßig in Parteistreitigkeiten der NCP und traf nicht nur die rivalisierenden Faktionen, sondern auch Staatspräsidentin Bhandari. Ende 2020 schickte die Kommunistische Partei Chinas sogar ihren Vizeminister Guo Yezhou nach Kathmandu, um zu vermitteln. Nach der Spaltung der NCP und ihrem Gang in die Opposition 2021 bleibt abzuwarten, wie die neue Regierung unter Leitung der Kongresspartei reagiert. Auch sie ist aber gutberaten, Nepals noch immer starke ökonomische Abhängigkeit von Indien zu reduzieren (Pal 2021).

Auswirkungen auf Europas Agenda in der Friedensförderung

Viele unserer Gesprächspartner*innen betonen, dass dieser wachsende Einfluss Chinas fundamentale Auswirkungen auf den Friedensprozess in Nepal habe, den Blick auf die europäischen Bemühungen im Land verändere und so eine neue Realität für die EU darstelle. China präge zum einen die öffentliche Wahrnehmung, welche Maßnahmen im Fokus des internationalen Engagements in Nepal stehen sollten. Zum anderen veränderten chinesische Investitionen die Ressourcen, die Entscheidungsträger*innen in Nepal zur Verfügung stehen. Insgesamt werden dadurch die Strategien und Konzepte der EU in Nepal verstärkt infrage gestellt (Chand 2019).

So bezeichnen unsere Befragten China als „Schlüsselfaktor“ und „wichtigen Grund“, warum anti-indische und anti-westliche Stimmungen in der Öffentlichkeit zunehmen und nepalesische Politiker*innen europäische Geber beschuldigen, für die politische Instabilität Nepals verantwortlich zu sein (Fußnote 1). Politiker*innen seien auch „uneinsichtiger“ gegenüber und „unabhängiger“ von europäischen Partnern geworden (Fußnote 2).

Die Bevölkerung bewerte zudem den Beitritt zur BRI als Möglichkeit, sich der Abhängigkeit von Indien zu entziehen – die Erinnerung an die Folgen dieser Abhängigkeit sei nach der Grenzblockade 2015 noch frisch. Zudem werde es von der Bevölkerung positiv wahrgenommen, dass China den Fokus auf Infrastruktur und Energiepolitik legt und nicht auf demokratische Reformen. Anders als europäische Demokratieförderung, deren direkte Resultate für viele Nepales*innen nicht sofort ersichtlich seien, betreffe Chinas Unterstützung das Leben der Bevölkerung „unmittelbar“ (Fußnote3).

Andere Befragte sind diesem Narrativ gegenüber kritischer und sagen, dass viele Rückschläge im Friedensprozess nicht mit China, sondern mit westlichen Gebern zusammenhängen. Sie betonen, dass direkt nach dem nepalesischen Bürgerkrieg eine positive öffentliche Haltung gegenüber europäischen Organisationen dominierte (Fußnote 4). Das habe zum einen mit dem Fehlen einer Kolonialvergangenheit in Nepal zu tun. Zum anderen bewirkte dies auch das langfristige Engagement der EU vor Ort, das ihr in Nepal das Image eines verlässlichen Partners verlieh (Chand 2019). Diese Sicht habe sich verändert – jedoch, betonen unsere Befragten, liege das nicht an China. Vielmehr verbinden sie diesen Wandel auch mit unsensiblen Verhaltensweisen europäischer Friedensfördernder vor Ort. Beispiele besonders negativ konnotierten Aussagen aus unseren Interviews lauten, dass Europäer*innen „denken, wir Nepalesen seien unterqualifiziert und unerfahren“ und „dass wir keine Brücke bauen, geschweige denn die Integration von Rebellen in die Armee organisieren können“ (Fußnote 5). Dieser Aspekt wird auch in anderen Studien dargestellt, die „wachsenden Ärger“ gegenüber internationalen Nichtregierungsorganisationen (INGOs) beobachten, da westliche Hilfe vor allem in den Taschen westlicher NGOs und nicht bei der Bevölkerung lande (Campbell 2012).

Hat der wachsende Einfluss Chinas also eine neue Realität für europäische Friedensförderung geschaffen – oder sind es Europas Versäumnisse selbst, die zu Rückschlägen beitrugen? Dieses Spannungsfeld ist nicht nur für Nepal interessant, lässt sich dort aber anhand dreier konkreter Beispiele gut darlegen: die Verfassungsgebung, die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie anhand von Fragen zu Sicherheitssektorreform (SSR) und Menschenrechten, besonders mit Blick auf Geflüchtete aus Tibet.

Beispiel 1: Der Verfassungsgebungsprozess

Die EU und ihre Mitglieder unterstützten nach 2006 maßgeblich die Entstehung einer neuen Verfassung in Nepal als Teil ihrer Politik, den Übergang zu einem säkularen, föderalen und demokratischen Staat mit umfassenden Garantien für Menschenrechte und Minderheiten zu fördern. Vor allem die Frage, wie der Föderalstaat gestaltet sein sollte – mit eigenen Bundesländern für ethnische Gruppen, oder entlang geografischer Trennlinien – gehörte zu den zentralen Konfliktlinien der Nachkriegszeit.

Auch China zeigte großes Interesse an diesem Prozess. Zeitungsberichten zufolge äußerte sich die chinesische Regierung besorgt über die Föderalismuspläne und soll Nepals Politiker*innen empfohlen haben, sich vom ethnischen Föderalismus „fernzuhalten“ (Bhattarai 2020). Die Sorge war, dass protibetischer Aktivismus in einem Föderalstaat größeren Handlungsspielraum hätte. Dies bestätigte etwa der frühere Rebellenführer, Premierminister und Parteichef der damaligen Maoistischen Partei in einem Interview: Die chinesische Regierung habe ihm gegenüber die Sorge geäußert, dass Nepals Föderalismusreform Teil einer westlichen Agenda sei, „Probleme in Tibet zu schaffen“ (Shakya 2014).

In der Verfassung setzten sich am Ende die Befürworter*innen des geografischen Modells durch. Das lag nicht nur an China – doch unsere Befragten verbinden die vermehrt kritischen Äußerungen nepalesischer Entscheidungsträger- *innen zur Rolle Europas mit Chinas Diplomatie. Plötzlich wurde etwa das Eintreten europäischer Diplomat*innen für die Rechte von Minderheiten in Nepal – eine Politik, die die EU seit Jahren verfolgt – als „politische Einmischung“ in innere Angelegenheiten und „normative Auferlegung“ von Werten gefasst (Chand 2019) (Fußnote 6). Auch äußerte Nepals Regierung im Jahr 2016 deutliche Kritik an einer gemeinsamen Presseerklärung der EU und Indien, die eine „inklusive Verfassung in Nepal“ forderte. Nepals Regierung rief die EU auf, die Souveränität des Landes zu respektieren – ein Vorgehen, das wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre (Bhattarai 2018).

Beispiel 2: Die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen

Einige Befragte verbinden die auf Seite 8 beschriebene Einschränkung zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume mit dem wachsenden Einfluss Chinas. Ihr Argument ist, dass Chinas Regierung die Exekutive in Nepal unter Druck setze, da  sie befürchte, dass westliche NGOs tibetische Anliegen unterstützen (Fußnote 7).

Beispielsweise brachen 2019 in Kathmandu Proteste gegen ein neues Mediengesetz aus. Kritiker-*innen zufolge sollte dieses Gesetzt die Pressefreiheit und die Handlungsspielräume von NGOs einschränken. NGO-Vertreter*innen argumentierten in diesem Zuge, dass das Gesetz nur durch Druck von China zustande kam: die im Rahmen der BRI geleistete Unterstützung sei „Vektor für Pekings extraterritoriale Kontrolle“ (Murton and Lord 2016). Ein weiterer Gesetzentwurf von 2019 zur Regulierung der Entwicklungszusammenarbeit war ähnlicher Kritik ausgesetzt. Der Entwurf legte fest, dass internationale Hilfe für NGOs „im Einklang mit den Prioritäten der Regierung“ Nepals stehen und auf Infrastrukturausbau setzen solle. Einer unserer Gesprächspartner – ein Abgeordneter der Regierungspartei im Parlament – sagte bereits zwei Jahre zuvor, dass Nepals Regierung europäische Geber „drängen“ wolle, sich in ihrer Unterstützung „wie China“ mehr auf Aspekte wie Infrastrukturentwicklung zu konzentrieren (Fußnote 8). Andere Befragte in unseren Interviews argumentieren jedoch, dass Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume in Nepal nicht mit China zusammenhängen, sondern das Ergebnis langfristiger Probleme seien.

Etwa gründeten in der Nachkriegszeit viele Parteimitglieder NGOs oder „belohnten“ ihnen nahestehende zivilgesellschaftliche Organisationen mit finanziellen Zuwendungen. NGOs wurden so „ununterscheidbar“ von politischen Parteien (Fußnote 9). Eine niederländische Entwicklungshelferin erzählte uns: „Es gibt nur sehr wenige NGOs, die frei von politischem Einfluss sind. Wenn wir ihnen Geld geben, finanzieren wir politische Parteien in Vertretung“ (Fußnote 10). Die finanzielle Abhängigkeit lokaler NGOs von internationalen Mitteln trug gleichzeitig zur Wahrnehmung in der Öffentlichkeit (und der Politik) bei, dass NGOs lokale Rechenschaftspflicht fehlt (Nazneen und Thapa 2019). NGO-Vertreter*innen selbst argumentieren dagegen, dass sie im Friedensprozess von Gebern – und auch von der EU – ausgegrenzt wurden, die lieber direkt mit der Regierung verhandelten (Fußnote 11). Zudem äußert sich gerade die nepalesische Presse weiterhin ausgesprochen offen und kritisch gegenüber „antidemokratischen“ Einflussnahmen durch die chinesische Botschafterin in Kathmandu in ihrem Sektor (Giri und Pradhan 2020).

Beispiel 3: Sicherheitssektorreform, Menschenrechte und tibetische Geflüchtete

Nach den Anti-China-Protesten in Kathmandu 2008 erhöhte die chinesische Regierung ihren Druck auf die nepalesische Regierung, was unmittelbar zu einer stärkeren Repression gegenüber protibetischem Aktivismus führte und langfristige Folgen für die Reform des Sicherheitssektors haben wird.

So verhaftete Nepals Polizei im Zuge der Proteste 2008 über 8.000 Personen, die sich für die Rechte der tibetischen Minderheit einsetzten (Campbell 2012). Nepals Regierung wird seitdem von Menschenrechtsschützer*innen vorgeworfen, Geflüchtete aus Tibet zwangsweise nach China zurückzuführen oder Chinas Polizei zu erlauben, Suchaktionen auf nepalesischem Staatsgebiet durchzuführen. Die chinesische Außenpolitik hat ihre Investitionen in Nepals Sicherheitssektor massiv erhöht,um die Kapazitäten für Grenzpatrouillen vergrößern und mögliche Unruhen stärker kontrollieren zu können (Fußnote 12). Ein nepalesischer Sicherheitsanalyst sagte uns klar: „China hat ein Interesse daran, die chinesisch-nepalesische Grenze zu kontrollieren, um zu verhindern, dass tibetische Geflüchtete sie überqueren“ (Fußnote 13). So habe China etwa konkret in die nepalesische Armed Police Force (APF) investiert, die während des Bürgerkriegs für Aufstandsbekämpfung geschaffen wurde (Fußnote 14). Als Folge dieser Politik sank die Zahl der in Nepal ankommenden tibetischen Geflüchteten von 874 (2010) auf 41 (2017) (Barnes 2019).

Es besteht breite Einigkeit unter Expert*innen darüber, dass diese Dynamik die europäische Agenda für Frieden, Demokratie und Menschenrechte in Nepal direkt negativ beeinflusst. Im Jahr 2011 soll die Regierung in Kathmandu zum Beispiel eine Resolution des Europäischen Parlaments „einfach ignoriert“ haben, in der sie aufgefordert wurde, die demokratischen Rechte tibetischer Geflüchteter zu respektieren und freie Wahlen für eine Exilregierung zu garantieren (Parajuli 2011). Die Dynamik habe auch den Prozess der SSR in Nepal „fundamental“ verändert, der lange Teil des europäischen Engagements war (Fußnote 15). Chinas „konkurrierende Rolle“ habe zu einer nur noch „selektiven Übernahme und Anpassung“ der Reformen durch die nepalesische Regierung geführt (Ghimire 2017).

Doch auch in dieser Frage antworten manche unserer Befragten, dass sich die Menschenrechtslage in Nepal auch unabhängig von der Rolle Chinas oder trotz des langjährigen EU-Engagements verschlechtere. Gerade in Bezug auf SSR weisen Studien auf die Vernachlässigung dieses Bereichs durch europäische Organisationen oder auf konkurrierende Interessen zwischen EU-Mitgliedsstaaten hin, beispielsweise bei Waffenlieferungen (Thapa 2015). So gebe es in der Zivilgesellschaft wie im Sicherheitssektor des Landes seit vielen Jahren Rufe nach einer Reform der
APF, die die jeweiligen Regierungen in Kathmandu stets ignorierten. Auch nennen Befragte mangelnde Glaubwürdigkeit der EU als Hemmnis für SSR. Ein Sicherheitsanalyst wies uns etwa darauf hin, dass europäische Geberinstitutionen stets eine höhere Frauenquote in Nepals Armee fordern – es aber selbst oft ausschließlich europäische Männer seien, die die diese Änderungen vorschlugen (Fußnote 17).

Fazit und Ausblick

Europäische wie chinesische Expert*innen bezeichnen den zunehmenden Einfluss Chinas in der internationalen Friedensförderung, der auf einen Ausbau der lokalen Infrastruktur und wirtschaftliche Entwicklung setzt, als Konkurrenzmodell für das ohnehin in der Kritik stehende Modell „Frieden durch Demokratieförderung“, das auch die EU in Nepal über Jahre verfolgte.

Unsere Untersuchung zeigt, dass der wachsende chinesische Einfluss in Nepal deutliche Auswirkungen auf den Friedensprozess hat und eine neue Realität für die europäische Rolle in der Friedensförderung vor Ort darstellt. Das zeigt sich in allen zentralen Bereichen des Friedensprozesses, von der Verfassung über die Situation der Zivilgesellschaft bis zu Fragen von SSR und der Achtung von Menschenrechten.

Gleichzeitig ist eine allzu plakative Darstellung des wachsenden Einflusses Chinas nicht gerechtfertigt. Das liegt mitunter an den oben beschriebenen Rückschlägen im Friedensprozess, die sich unabhängig vom Handeln des chinesischen Außenministeriums ergaben. Weitere Ursachen sind, dass Nepal in mancher Hinsicht auch resilient gegenüber Chinas Einfluss ist, beispielsweise durch seine lebhafte Medienlandschaft. Nepal – gemessen am Pro-Kopf-Einkommen eines der ärmsten Länder der Welt – kann sich zudem gar nicht leisten, mit nur einer Großmacht zusammenzuarbeiten und besitzt dadurch durchaus souveräne Verhandlungsmacht in der Gestaltung seiner Außenbeziehungen (Pal 2021).

Zwar ist diese vorliegende Analyse als Einzelfallstudie mit Einschränkungen verbunden, was die Übertragung der Ergebnisse auf andere Länder angeht. Aufgrund der besonderen geografischen Nähe und strategischen Bedeutung Nepals für China können wir beispielsweise nicht dasselbe chinesische Engagement in Postkonfliktländern in anderen Weltregionen erwarten.

Dennoch lässt sich aus unserer Studie für internationale Friedensförderung generell etwas lernen: Die von unseren Befragten beschriebenen Missstände – unsensibles Auftreten des internationalen Personals gegenüber lokalen Beteiligten am Friedensprozess, konkurrierende Interessen zwischen EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten oder (begründete) Zweifel an der europäischen Glaubwürdigkeit – sollten ganz unabhängig von der Rolle
Chinas angegangen werden.

Dieser Blickwinkel basiert auf dem Beitrag „A Challenge to the Liberal Peace? European Union Peacebuilding faces China in Nepal“ der Autor*innen, veröffentlicht im Sonderheft „Weathering the Storm? The EU as a Global Peace and Security Actor in Turbulent Times” im European Review of International Studies 8, 3 (2021), herausgegeben von Andreas Grimmel und Julia Strasheim. Die Autor*innen danken Hendrik Heetlage, Elisabeth Winter und Meik Woyke für ihre Anmerkungen und Kommentare in früheren Versionen dieses Blickwinkel-Beitrags.

  • Feldforschung und Interviews

    Was denken Menschen in Konfliktländern über Maßnahmen zur Förderung „ihres“ Friedens durch die EU und China? Die vorliegende Studie beruft sich in erster Linie auf Interviews und Fokusgruppendiskussionen, die wir seit 2015 mit über 70 Vertreter*innen aus Politik, Journalismus, Zivilgesellschaft, Militär, Polizei und internationalen Organisationen in Nepal geführt haben. Dazu waren wir im Herbst 2015 und im Frühjahr 2017 für zwei Forschungsaufenthalte in Nepal und haben die dort gewonnenen Informationen zwischen 2018 und 2021 durch weitere Interviews, telefonisch oder per Videokonferenz, ergänzt. Der lange Beobachtungszeitraum ermöglicht uns, den wachsenden Einfluss Chinas in Nepal vor und nach dem Beitritt des Landes zur BRI im Jahr 2017 zu erheben. Aufgrund der sensiblen Thematik haben wir allen Befragten Anonymität zugesichert und nennen hier nur ihre Funktion (zum Beispiel „Journalist“). Die Informationen aus unseren Interviews und Fokusgruppen kombinieren wir mit Erkenntnissen der bestehenden Forschung und Einsichten aus Policy-Dokumenten und Zeitungsartikeln, insbesondere der nepalesischen Presse.

Fußnoten

Fußnote 1: Nepalesischer Sicherheitsanalyst, 24. April 2017; deutsche Entwicklungshelferin, 11. Dezember 2018; EU-Expertin für Entwicklungszusammenarbeit, 1. Oktober 2020; nepalesischer Diplomat, 15. Juni 2021.
Fußnote 2: Deutsche Entwicklungshelferin, 11. Dezember 2018; EU-Expertin für Entwicklungszusammenarbeit, 1. Oktober 2020; nepalesischer Leiter eines Thinktanks, 27. Mai 2021.
Fußnote 3: Nepalesischer Diplomat, 15. Juni 2021.
Fußnote 4: Ehemaliger außenpolitischer Berater des nepalesischen Premierministers und Mitglied der Vereinigten Marxistisch-Leninistischen Partei, 19. Oktober 2015; niederländische Entwicklungshelferin, 23. September 2015.
Fußnote 5: Ehemaliger General der Nepal Army, 25. April 2017; Generalmajor der Nepal Army, 15. Mai 2017.
Fußnote 6: Nepalesischer Leiter eines Thinktanks, 27. Mai 2021.
Fußnote 7: Deutsche Entwicklungshelferin, 11. Dezember 2018; europäischer Diplomat, 29. September 2020.
Fußnote 8: Abgeordneter der Vereinigten Marxistisch-Leninistischen Partei, 27. April 2017.
Fußnote 9: Nepalesischer Leiter einer zivilgesellschaftlichen Organisation, 9. Oktober 2015.
Fußnote 10: Niederländische Entwicklungshelferin, 23. September 2015.
Fußnote 11: Nepalesischer Leiter einer zivilgesellschaftlichen Organisation, 9. Oktober 2015.
Fußnote 12: Früherer Generalinspekteur der nepalesischen Polizei, 26. April 2017.
Fußnote 13: Nepalesischer Sicherheitsanalyst, 24. April 2017; vgl. Aussagen eines Abgeordneten der Vereinigten Marxistisch-Leninistischen Partei, 27. April 2017, und eines nepalesischen Leiters eines Thinktanks, 27. Mai 2021.
Fußnote 14: Nepalesischer Sicherheitsberater, 26. April 2017.
Fußnote 15: Nepalesischer Wissenschaftlerin, 5. Mai 2017.
Fußnote 16: Nepalesischer Leiter einer zivilgesellschaftlichen Organisation, 24. April 2017; ehemaliger stellvertretender Generalinspekteur der APF, 25. April 2017; nepalesischer Wissenschaftlerin, 5. Mai 2017.
Fußnote 17: Nepalesischer Sicherheitsberater, 26. April 2017.