„Geschichte betrifft jeden Bürger“

Helmut Schmidt erkannte bereits zu Lebzeiten, welchen Wert Archive für die Zukunft haben

Helmut Schmidt liest in einem geöffneten Aktenordner in seinem Privatarchiv in Hamburg-Langenhorn.

Liebe Leser*innen,

seit nunmehr sechs Monaten herrscht Krieg in Europa. Ein Krieg, der nicht nur unendliches Leid über die Menschen bringt, sondern der auch einhergeht mit der Zerstörung von Archiven, Museen, Bibliotheken und anderer Kulturstätten. Das kollektive Gedächtnis einer Nation wird gelöscht.

Wir sind überzeugt: „Demokratie braucht … Archive“! Diesen Standpunkt beleuchten wir nicht nur in unserem Schmidtletter, er ist auch Thema eines Diskussionsabends am Donnerstag, 8. September, zu dem wir Sie herzlich einladen. 

Dies entspricht der Überzeugung von Helmut Schmidt, der selbst im Zweiten Weltkrieg die Vernichtung von Kulturerbe erlebte und bereits zu Lebzeiten begann, sein eigenes Archiv aufzubauen. 

Wir wünschen Ihnen eine informative Lektüre
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



Der „Scheiß Krieg“ – wie Helmut Schmidt den Zweiten Weltkrieg nannte – dauert schon fast drei Jahre als die Alliierten beginnen Hamburg zu bombardieren; am 24. Juli 1943 starten sie die „Operation Gomorrha“. Unter den massiven Luftangriffen entfacht sich ein zerstörerischer Feuersturm, bei dem zehntausende Menschen sterben und 280.000 Wohnungen ausbrennen – darunter auch die von Loki und Helmut Schmidt. In den Flammen verlieren sie ein Großteil ihrer persönlichen Ausarbeitungen und Familienreminiszenzen. Doch der junge Schmidt beginnt erneut seine Erinnerungen und Unterlagen abzulegen und schafft damit die Basis seines umfangreichen Privatarchivs – das heutige Helmut Schmidt-Archiv. 

Er wusste also durch seine eigene Biografie um den persönlichen und gesellschaftspolitischen Wert von Archiven: Sie sind nicht nur die unverzichtbare Grundlage für historisches Arbeiten, sondern bewahren „verbrieftes Recht“, wie Verträge oder Urkunden sowie Alltagsgeschichte auf. Sie sind daher ein wichtiges Instrument der Rechtsstaatlichkeit, ein unverzichtbarer Bestandteil einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft. Nicht zuletzt bieten Archive eine kulturelle Bereicherung. 

Ein Angriff auf das ukrainische Gedächtnis

78 Jahre später herrscht wieder Krieg in Europa. Mit dem völkerrechtswidrigen Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine am 24. Februar 2022 brachte der Aggressor viel Leid über die Bevölkerung. Millionen flüchten vor den zerstörerischen Angriffen, Zehntausende starben bereits in den ersten Monaten des Kriegs. Und während die russische Regierung die nationale Identität der Ukraine leugnet, lässt sie Archive und andere Kulturstätten zerstören – denn sie sind es, die das kulturelle Gedächtnis der Ukraine bewahren und (politisches) Handeln dokumentieren.

Mehr als 86 Millionen Dokumentenordner lagern in der Ukraine an verschiedenen Standorten, so Anatolij Chromow, Leiter des Staatlichen Archivdienstes der Ukraine (Interview im Spiegel). Damit gehöre der Archivbestand zu den größten in Europa. Doch Dokumente zu deutschen Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs, Akten von Opfern des stalinistischen Terrors und Zeugnisse ukrainischer Eigenständigkeit wurden bereits beschossen, verschleppt oder vernichtet. Damit hat die russische Invasion eine irreparable Lücke in die Überlieferung Europas gerissen, die die Aufarbeitung der Geschichte gefährdet und einen Nährboden für antidemokratische Parteien bietet.

Die Anteilnahme westlicher Staaten angesichts der Zerstörung ukrainischer Archive ist groß und wird von einer Welle von Hilfsmaßnahmen begleitet: Um zu verhindern, dass weitere unersetzliche Dokumente verschleppt oder zerstört und kulturelle Websites unwiderruflich abgeschaltet werden, lädt die Initiative SUCHO (Saving Ukrainian Cultural Heritage Online) diese Daten auf externe Server weltweit. Nichts würde ihn glücklicher machen, so Quinn Dombwoski, Leiter der Initiative, als wenn diese Dateien nicht gebraucht würden. Aber für den Fall, dass diese Backups benötigt würden, wolle er sie dorthin zurückbringen, wo sie hingehörten: in die Hände ukrainischer Bibliothekar*innen, Archivar*innen und Kurator*innen (aus der Pressemitteilung). Deutsche und britische Archive spenden zudem Verpackungsmaterial, unterstützen bei der Digitalisierung von Archivalien und stellen die hierfür notwendigen Sever bereit. Alles mit dem Ziel, eine kulturelle Wiederherstellung nach dem Ende der russischen Invasion zu ermöglichen.

Eigentlich sollte die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten verhindern, dass dies überhaupt nötig ist. Nach der beispiellosen Vernichtung und Verschleppung von Kulturgut im Zweiten Weltkrieg sollte das internationale Abkommen „bewegliches oder unbewegliches Gut, das für das kulturelle Erbe aller Völker von großer Bedeutung ist“ vor taktischer Zerstörung schützen. Doch obwohl die damalige Sowjetunion dem Abkommen 1957 beitrat, hält sich die Regierung von Wladimir Putin nicht (mehr) daran.

„Geschichte betrifft jeden Bürger“, appellierte Helmut Schmidt 1978 auf dem Historikertag in Hamburg. Schließlich sei die Basis einer geeinten Nation eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit und der gemeinsame Anspruch an die Zukunft. Die Voraussetzung dafür bilden Archive, die das Gegenwärtige für die Zukunft sichern und den Rückgriff auf Vergangenes erst möglich machen. Sie speichern nicht nur Schriftgut, Fotografien, Töne und Filme, sondern bewahren auch Traditionen, Sprache, Kunstgegenstände und Gebäude. Sie machen eine Gesellschaft zu dem, was sie ist und geben ihr ein Fundament, auf dem eine Nation aufbauen und sich weiterentwickeln kann.

Es verwundert daher nicht, dass Archive seit ihrem Bestehen zu politischen Streitobjekten wurden, deren pragmatischer wie symbolischer Wert sie zu einem attraktiven Faustpfand machte. Ihre Verschleppung und Vernichtung kann zum Missbrauch von Geschichte führen – historische Zusammenhänge können unsichtbar, für künftige Generationen unbegreifbar werden.

Demokratie braucht Archive

Seiner Überzeugung folgend, öffnete Helmut Schmidt sein Privatarchiv für die Forschung: Im Helmut Schmidt-Archiv in Hamburg-Langenhorn ist buchstäblich Demokratiegeschichte für nachfolgende Generationen konserviert, um diesen zu helfen, die Erlebnisse ihrer Zeit einzuordnen.

Am 8. September möchten wir mit Ihnen, liebe Leser*innen, über den Wert von Archiven sprechen: Wie genau können sie Geschichtsverklärung entgegenwirken und die Selbstbestimmung einzelner stärken und welche Rolle spielen sie für den Rechtsstaat?

Gemeinsam mit der Deutschen Nationalstiftung (DNS) suchen wir an diesem Diskussionsabend nach Antworten auf diese Fragen. Unsere Gäste sind Professor Dr. Dr. Rainer Hering, Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein, Gabriele Woidelko, Leiterin des Bereichs Geschichte und Politik der Körber-Stiftung, und Dr. Meik Woyke, Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung.

Wir laden Sie herzlich ein, dabei zu sein! 

Mehr Informationen und Anmeldung

Momentaufnahme des Versuchs Kulturgut vor der Zerstörung durch die russische Invasion zu retten: Eine Mauer aus Sandsäcken schützt den Eingang zum Opernhaus von Odessa (30.3.2022).

© picture alliance

Helmut Schmidt liest in einem geöffneten Aktenordner in seinem Privatarchiv in Hamburg-Langenhorn.

Helmut Schmidt in seinem Privatarchiv in Hamburg-Langenhorn, 1983.

© Jupp Darchinger

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