Spionage-Affäre löst Kanzlerwechsel aus

Von Brandt zu Schmidt – Internationale Konferenz beleuchtet die historischen Hintergründe

Autor/in:Magnus Koch
Schwarz-weiß Foto von Helmut Schmidt und Willy Brandt

Liebe Leser*innen,

wir nehmen Sie mit auf eine Zeitreise in das Frühjahr 1974: Ölkrise, wilde Streiks, hohe Arbeitslosenzahlen, der Zusammenbruch des internationalen Währungssystems kennzeichneten das Ende des Wirtschaftsbooms. Die Umweltverschmutzung führte uns die Grenzen des Wachstums vor Augen. Obendrein schürten die Anschläge linksterroristischer Gruppen zusätzliche Ängste in der Bevölkerung. Willy Brandt, an dem die vielfältigen Herausforderungen zehrten, traf nach der Enttarnung des Stasi-Spions Günter Guillaume eine Entscheidung: Er trat als Bundeskanzler zurück. Helmut Schmidt wurde im Mai 1974 zu seinem Nachfolger gewählt.

Zum 50. Jahrestag des Kanzlerwechsels blickt Dr. Magnus Koch, der Leiter unseres Arbeitsbereichs Ausstellungen und Geschichte, heute in unserem Schmidtletter auf die bewegten Zeiten zurück. Und er macht neugierig auf eine internationale Konferenz, die wir am 25. und 26. April 2024 gemeinsam mit der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin organisieren.

Sie sind herzlich eingeladen teilzunehmen, melden Sie sich gerne über den Link unten an.
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Der Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt im Mai 1974, der sich in diesem Jahr zum 50. Mal jährt, fiel in eine Zeit des Umbruchs. Der Kollaps des internationalen Währungssystems und die Ölpreiskrise seit Herbst 1973 markierten das Ende des jahrzehntelangen Nachkriegsbooms. Hohe Inflationsraten, wirtschaftliche Stagnation, wilde Streiks und stark ansteigende Arbeitslosigkeit waren die Folge. Finanzielle Spielräume für die großen Reformprojekte der sozial-liberalen Koalition waren kaum noch vorhanden. Viel von der „Planungseuphorie“ und dem optimistischen Glauben an die Zukunft, die Brandts Kanzlerschaft seit 1969 gekennzeichnet hatten, war verflogen. Stattdessen verbreiteten sich in weiten Teilen der Bevölkerung Gefühle der Unsicherheit, der Skepsis und der Zukunftsangst. Diese Sorgen wurden nicht nur durch ein wachsendes Bewusstsein für die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und die Verschmutzung der Umwelt weiter genährt. Bedroht erschien auch die innere Sicherheit, die in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem durch Anschläge linksterroristischer Gruppen wie der Roten Armee Fraktion (RAF) erschüttert wurde.

Emanzipatorischer Zeitgeist schwindet

Vor diesem Hintergrund nahm zurzeit des Kanzlerwechsels die Zustimmung für den emanzipatorischen Zeitgeist spürbar ab, der die Bundesrepublik mit Beginn der Studentenbewegung 1967/68 erfasst und verändert hatte. Zugleich entwickelten sich in den 1970er-Jahren aber auch vielfältige „Neue Soziale Bewegungen“, die aus den linksalternativen Milieus der 68er hervorgingen: Fortschrittsskeptisch, umweltbewusst und kapitalismuskritisch setzten sie der etablierten repräsentativen Demokratie der ersten Nachkriegsjahrzehnte ein neues Politikverständnis entgegen – nicht zuletzt innerhalb der Sozialdemokratie waren diese Strömungen stark ausgebildet. Angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse („Die Grenzen des Wachstums“) stellten meist gut ausgebildete junge Menschen das hergebrachte Wachstumsparadigma und damit alte Gewissheiten infrage. Sie forderten insbesondere in der Umwelt- und Energiepolitik, aber auch bezüglich Geschlechterfragen, später dann in der Sicherheitspolitik, neue Wege ein.
In dieser vielschichtigen Umbruchssituation standen die Zeichen der Zeit in erster Linie auf Stabilität und Sicherheit – angesichts der verbreiteten Stimmung schien es kaum einen geeigneteren Nachfolger zu geben als Helmut Schmidt. Der studierte Volkswirt und bisherige Finanzminister war ein Fachmann in Wirtschafts- und Währungsfragen. Und auch aufgrund seiner vielfältigen politischen Erfahrungen und Ämter (Innensenator in Hamburg, SPD-Fraktionschef im Bundestag sowie Bundesverteidigungsminister) war er schon lange Hoffnungsträger und Aushängeschild seiner Partei für die Zukunft.

Stasi-Spion-Affäre

Im Zuge der Affäre um den Stasi-Spion Günter Guillaume war Willy Brandt am 6. Mai 1974 als Regierungschef zurückgetreten. Dieser war, seit Längerem beobachtet durch Polizei und Verfassungsschutz, als Referent des Kanzlers tätig gewesen. Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass in der Enttarnung allein kein hinreichender Grund für den Rücktritt zu sehen ist. Brandts Entscheidung ist vielmehr auf die auch mit der Wirtschaftskrise verbundenen großen Herausforderungen zurückzuführen sowie auf physische und mentale Auszehrung. Dies alles zu bewältigen, hatte er offenbar nicht mehr die Kraft. Brandt nahm seinen Hut, blieb aber SPD-Vorsitzender.

Am 16. Mai 1974 wurde Helmut Schmidt vom Deutschen Bundestag zum fünften Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Sein Programm stellte er den Abgeordneten einen Tag später in seiner Regierungserklärung unter dem Leitmotiv „Kontinuität und Konzentration“ vor. Er kündigte an, Brandts Agenda in weiten Teilen fortführen zu wollen, betonte allerdings, in Zeiten schwieriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen den Reformprozess stärker an den fiskalischen Möglichkeiten auszurichten. „In einer Zeit weltweit wachsender Probleme konzentrieren wir uns in Realismus und Nüchternheit auf das Wesentliche, auf das, was jetzt notwendig ist, und lassen anderes beiseite“, so der neue Regierungschef.

„Partner und Rivalen“

Brandt und Schmidt verband ein komplexes persönliches Verhältnis, sie waren „Partner und Rivalen“. Auf der einen Seite der Sozialist und Gegner des Nationalsozialismus, auf der anderen der Offizier der Luftwaffe, der während des gesamten Kriegs in Hitlers Wehrmacht gedient hatte. Altersmäßig trennten die beiden nur fünf Jahre. Ihre Erfahrungen waren jedoch höchst unterschiedlich, und sie repräsentierten damit zwei Typen von Verhaltensweisen während der nationalsozialistischen Diktatur. Schmidt, der sich nach dem Krieg vom Nationalsozialismus stark distanzierte, brachte Brandt wegen seiner Widerstands- und Exilbiografie stets große Wertschätzung entgegen. Seit 1969 geriet er immer öfter mit dem Parteifreund aneinander. Das lag vor allem an unterschiedlichen Vorstellungen über die Führung von Partei und Regierung. Als Brandt schließlich zurücktrat, befand Schmidt, er habe sich für das Kanzleramt nicht aufgedrängt; eine Meinung, die seinerzeit von kaum einem Beobachter in Bonn geteilt wurde.

Kanzlerwechsel Konferenz

Anlässlich des 50. Jahrestags werden die BKHS und die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung die vielfältigen Facetten des Kanzlerwechsels 1974 im Rahmen einer internationalen Konferenz in Berlin diskutieren und historisch einordnen. Dabei geht es auch um die Frage, wie der Kanzlerwechsel beziehungsweise der damit einhergehende Austausch auch von politischem Personal und Inhalten sich auf die oben skizzierten (inter-)nationalen Entwicklungen auswirkte. Dies wollen wir untersuchen auf den Feldern der Außen- und Sicherheitspolitik, der Wirtschafts- und Finanz- sowie der Gesellschaftspolitik. Zugleich werden wir uns auch noch einmal kritisch den beiden Persönlichkeiten und ihren Regierungsstilen widmen und dabei scheinbar alte Gewissheiten im Licht neuerer Forschungen überprüfen – dafür haben wir eine Reihe von Expert*innen aus dem In- und Ausland eingeladen. Am Abend des ersten Tags, am 25. April, werden wir mit prominenten Gästen aus Politik, Wissenschaft und Medien die Wirkungsgeschichte der Bundeskanzler für ein breiteres Publikum einordnen und fragen, welche Schlüsse daraus für die Gegenwart zu ziehen sind. Wenn Sie Interesse haben, an unserer Tagung teilzunehmen, können Sie sich hier dafür anmelden.

Schwarz-weiß Foto von Helmut Schmidt und Willy Brandt

Willy Brandt und Helmut Schmidt auf dem SPD-Parteitag in Bonn am 18. November 1971. © picture alliance/Klaus Rose

Schwarz-weiß Foto von Helmut Schmidt und Willy Brandt

Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Parteivorsitzende Willy Brandt auf dem Bundesparteitag der SPD am 14. November 1975. © picture alliance/Heinrich Sanden

Schwarz-weiß Foto von Helmut Schmidt und Willy Brandt

Bundeskanzler Helmut Schmidt (l.) im Gespräch mit dem SPD-Parteivorsitzenden Willy Brandt am Rande der konstituierenden Sitzung des 8. Deutschen Bundestags am 14. Dezember 1976.

© Bundesregierung/Ludwig Wegmann

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