Hatice Cengiz

Eine kurze Vorstellung der Speakerin unserer Helmut Schmidt Lecture 2022

Hatice Cengiz ist eine türkische Journalistin und Nahost-Expertin, die wissenschaftliche Artikel und ein Buch über die Golfstaaten veröffentlicht hat. Sie ist die Witwe des getöteten Washington Post Redakteurs Jamal Khashoggi, der am 2. Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul ermordet wurde. Seit diesem Tag setzt sich Hatice Cengiz für die Aufklärung des Falls ein. Sie kämpft für Wahrheit und Gerechtigkeit für die Ermordung ihres Verlobten und dafür, dass die internationale Gemeinschaft diejenigen zur Rechenschaft zieht, die den Mord angeordnet und geplant haben. Sie hat ihr Anliegen vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, dem Europäischen Parlament, dem US-Kongress und verschiedenen anderen nationalen Parlamenten vorgebracht.

Als Menschrechtsaktivistin setzt sie sich für Pressefreiheit und Rechenschaftspflicht ein. Am 10. November hält sie unsere zweite Helmut Schmidt Lecture in Berlin, vorab hat sie uns einige Fragen beantwortet:

Frau Cengiz, Ihr Leben hat vor vier Jahren eine unerwartete Wendung genommen, als Ihr Verlobter Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul ermordet wurde, während Sie draußen auf ihn warteten. Können Sie schildern, was Sie seitdem durchgemacht haben und wo Sie heute stehen?

Es fiel mir lange Zeit schwer zu begreifen, was passiert war. Ich fühle mich wie in einem Albtraum. Etwas Außergewöhnliches zu erklären ist ebenso schwierig, wie es zu verstehen. Mit dem Verstreichen der Tage wurde es immer schwieriger zu absorbieren. Während ich noch über unsere Heiratspläne nachdachte, stand ich plötzlich im Fokus der Weltöffentlichkeit und war die Person, die sich äußern sollte.

Den Medien angesichts dieses schrecklichen Erlebnisses gegenüberzutreten, fiel mir sehr schwer. In einer solchen Situation der Verzweiflung und Enttäuschung will man allein sein, weil man annimmt, dass niemand das Leiden spüren kann, das man erlebt. Alles, was ich wollte, war allein zu sein und zu versuchen, zu verstehen und zu akzeptieren, was passiert war. Aber das war nicht möglich, denn ich fand mich als Teil dieses großen und unglaublichen Attentats. Trotz all des Schmerzes und der Verzweiflung dachte ich, dass ich reden muss und den Menschen erzählen muss, was passiert war. Später kämpfte ich noch immer für Gerechtigkeit. Ich merkte, dass ich jetzt den Menschen, die von ihrem Leid erzählten, aufmerksamer zuhörte.

In Saudi-Arabien fand ein Schauprozess gegen die Mörder von Jamal Kashoggi statt, der von internationalen Beobachtern als Farce gewertet wurde. Die türkische Justiz hat ihre Ermittlungen im April 2022 eingestellt. Welche Chancen sehen Sie, dass der Mord gesühnt und die wahren Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden? Wer könnte die Wahrheit ans Licht bringen?

Die Wahrheit ist bereits da draußen, sowohl die Türkei als auch die USA berichten, dass die Attentäter Staatsangehörige Saudi-Arabiens waren. Der UN-Berichterstatter sagte auch, dass Mohammed bin Salman den Auftrag gegeben habe. Auch die saudischen Behörden räumten den Mord ein. Allerdings wurden in diesem Fall, an dem der Staat und hochrangige Staatsbeamte beteiligt waren, noch keine wirklichen Ergebnisse bei der Rechtsprechung erzielt. Vielleicht liegt der Grund darin, dass die Länder wirtschaftliche Interessen zuerst auf den Tisch legen.

Trotz allem, was passiert ist und was in Zukunft passieren könnte, bin ich immer noch hoffnungsvoll, was die in den USA eingereichte Klage angeht. Die Suche nach Gerechtigkeit und darüber weiter zu sprechen ist auch eine Art Gerechtigkeit. Denn so werden diese Kriminellen jeden Tag an ihr Verbrechen erinnert und es ist eine große Schande für sie.

Was muss getan werden, um die Erinnerung an den Fall wach zu halten?

Das Thema sollte weiter hervorgehoben und behandelt werden. Es sollte möglichst dokumentarisch aufgearbeitet und in Veranstaltungen präsentiert werden. Menschen, die für die Freiheit kämpfen, sollten ermutigt werden. Jamal sollte gedacht werden; jedes Jahr sollte eine Gedenkfeier stattfinden und es könnte ein Denkmal oder eine Institution zu seinen Ehren eröffnet werden.

Seit Februar 2022 ist die Welt konfrontiert mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, die eine Energiekrise verursacht hat und einige Regeln auf den Kopf zu stellen scheint. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie den deutschen Außenminister in Saudi-Arabien um Öl verhandeln sehen?

Ich glaube, die Welt wird immer unbewohnbarer, aber wir können ihr einen Sinn geben. Dies kann nur erreicht werden, indem menschliche Werte und die Bedeutung der Menschenrechte priorisiert werden. Der Mensch ist nur mit seinen Werten ein sinnvolles Geschöpf. Das Wichtigste, was uns von anderen Kreaturen unterscheidet, ist, dass wir Gefühle und Werte haben. Die Aufrechterhaltung der Beziehungen zu Kriminellen bedeutet nicht nur das Eingeständnis von Schuld, sondern auch deren Normalisierung.

Was würden Sie der Politik in der aktuellen Situation raten?

Ich möchte die Politiker daran erinnern, Politik tugendhafter zu gestalten. Diejenigen, an die sich die Geschichte am meisten erinnert, sind die Helden, die neben den Kriminellen kämpfen oder versuchen, für ihre Werte zu kämpfen. Ich weiß, dass nicht jeder ein Held sein kann, aber ich kann sie auffordern, wieder moralische Werte in die Politik einzuführen.

Die Weltordnung, in der wir leben, erlebt schwere Erschütterungen. Sie gibt der Menschheit keine Hoffnung. Gegen Ungerechtigkeit zu schweigen macht diese Anordnung nutzloser. Am Ende sind es Gerechtigkeit und Tugendhaftigkeit, die uns retten werden. Jeder braucht sie, nicht nur ich.

Wie beurteilen Sie mit Blick auf Saudi-Arabien heute die aktuelle Situation der Pressefreiheit und der Menschenrechte?

Nach Jamal interessiert sich die ganze Welt dafür, was in Saudi-Arabien passiert – ich verfolge es auch. Jamals Mord blieb ungesühnt. Die saudische Regierung bedroht die Welt weiterhin mit ihrer Geldmacht. Jeden Tag wachen wir mit einem neuen Menschenrechtsskandal auf. Täglich berichten die Nachrichten über zahllose Ungerechtigkeiten und unfaire Gerichtsverfahren. Aber ich denke, dass Jamals Mörder nicht die notwendige Strafe für die Rolle erhalten haben, die sie bei all dem gespielt haben. Die derzeitige saudische Regierung glaubt, dass wir mit diesem Mord bereits fertig sind. Das gibt ihnen die Kraft, weiter zu tun, was sie wollen.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der letzten vier Jahre und dessen, was Sie durchgemacht haben? Welche Pläne und Projekte haben Sie?

Dieses Thema hat mich stark beschäftigt, ich habe viele Stunden damit verbracht, was die Zukunft für mich sein könnte, ich habe mit Freunden und Familie gesprochen und ihre Meinung dazu eingeholt.

Es war ausgeschlossen, mein Leben normal fortzusetzen, als ob nichts passiert wäre, da sind Gedanken und Gefühle tief in mir, die mir sagen, dass ich jetzt eine Pflicht zu erfüllen habe. Ich brauche den Kampf für Gerechtigkeit. Um weiterzugehen, muss ich meine Erfahrung und das, was ich durchgemacht habe, mit anderen teilen, sie wachsam machen, unterstützen und vielleicht führen.

Daher bin ich mit der Unterstützung einiger enger Freunde dabei, eine Organisation zu finden, die sich für mich und für diejenigen einsetzt, die ihrer Menschenwürde und ihrer Rechte beraubt wurden. Die Arbeit wird weitergehen, der Ruf nach Gerechtigkeit wird nicht aufhören, wir haben unsere Stimme, um sie zu erheben und niemals aufzuhören.

Ich werde immer danach streben, denen, die leiden oder unterdrückt werden, zuzuhören, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen.



Kurzvita

Hatice Cengiz hat in Ägypten, Oman, Jordanien und Großbritannien studiert und gelebt. Sie ist freie Kolumnistin verschiedener internationaler Redaktionen wie der Washington Post und der HuffPost sowie Autorin zahlreicher Bücher. Heute lebt sie in Istanbul.
Seit dem Tod von Jamal Khashoggi ist sie eine gefragte Interviewpartnerin.

Eine Auswahl internationaler Interviews:

The New Yorker, 15. August 2019 
Die Zeit, 2. Oktober 2019
Der Spiegel, 21. November 2020
Deutsche Welle, 20. November 2020

Buchveröffentlichungen:

Onuş, S., & Ersoy, M. (2019). As Told by His Fiancée Hatice Cengiz: Jamal Khashoggi, Behind the Murder of the Century. Kopernik Inc. ISBN-13:‎ 978-6058093539.

Cengiz, H. (2018). Umman’da Sultan Kâbus Döneminde Mezhepler Arası Bir Arada Yaşama Örneği. Istanbul: Marmara Reklam ve Paz. Ltd. Şti. ISBN-13: 978-6052456330.

 

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